Erst seit kurzem hat Israel wieder einen Botschafter in Polen, wegen des Kriegs in Polens Nachbarland Ukraine. Vorher hatte Israel seinen Gesandten monatelang abgezogen – aus Wut. Wut darüber, dass Polen antisemitisch sei, weil es jüdischen Grundbesitz nicht zurückgebe.
Grund für diesen Vorwurf ist ein Gesetz, das es wohl einigen Erben von jüdischen Grundeigentümern in Warschau unmöglich macht, ihr Erbe zurückzufordern.
Zahlreiche ungeklärte Besitzverhältnisse
Um das zu verstehen, muss man wissen: Die Rückgabe von Grundbesitz ist ein grosses Thema in Polen. Denn im Zweiten Weltkrieg und danach sind so viele Menschen ermordet und enteignet worden, dass es an vielen Ecken ungeklärte Besitzverhältnisse gibt. Ganz besonders in Warschau. Ein Beispiel dafür ist das prächtige weisse Haus, das uns Jan Spiewak mitten in der polnischen Hauptstadt zeigt.
Den Grundstein für diesen Diebstahl legten die Nazis 1939: Gleich zu Beginn des Zweiten Weltkriegs bombardierten sie die Millionenstadt Warschau, später machten sie fast 90 Prozent der Gebäude in der polnischen Hauptstadt dem Erdboden gleich. Vor dem Krieg lebten hunderttausende Juden in der Stadt, nur die wenigsten überlebten den Holocaust. Und auch viele nicht-jüdische Polinnen und Polen flohen oder starben.
Nach dem Krieg herrschten die Kommunisten – sie mussten eine ganz neue Stadt aufbauen. Natürlich wollten sie ohnehin ungeachtet der äusseren Umstände vieles verstaatlichen, aber im Fall von Warschau hätte der Wiederaufbau ohne Verstaatlichungen wohl kaum funktioniert. Schliesslich hätte jede Regierung einen einheitlichen Plan und Land gebraucht, um die zerstörte Stadt wiederauferstehen zu lassen.
Die kommunistische Regierung entschied: Die 40'000 Gebäude – oft Ruinen, deren Eigentümer verschwunden waren – gehören dem Staat. Wer etwas zurückhaben wollte, hatte Zeit bis in die frühen 1950er-Jahre, um sich zu melden. Und er musste Geld haben, um die Gebäude zu renovieren und zu unterhalten. Diese Frist verstrich, ohne dass sich viele Vorkriegs-Eigentümer meldeten.
Kein Gesetz für Entschädigungen in Polen
Doch im Jahr 1989, nach dem Ende des Kommunismus, wollten viele frühere Eigentümer ihren Besitz zurück – oder zumindest eine Entschädigung. Polen hatte für diese Fälle, anders als andere Länder des ehemaligen Ostblocks, kein Gesetz. Und so begann in den 1990er-Jahren die hohe Zeit der Spekulanten: Der Staat privatisierte Grundstücke und Gebäude ohne Regeln, es war einfach, etwas zu bekommen, nicht selten dank gefälschten Dokumenten und bestochenen Warschauer Beamten.
«Eine verrückte Zeit», sagt Politiker Jan Spiewak. Nach dem Krieg hatte man Kindergärten, Schulen und Parks geschaffen. Nach 1989 mussten nicht wenige weichen, weil jemand die Grundstücke für sich beanspruchte. Oft eine rechtmässige Erbin, manchmal aber auch nicht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg riss eine kriminelle Bande das strahlend weisse Haus, zu dem uns Jan Spiewak geführt hat, mit gefälschten Dokumenten an sich und verkaufte es. Die wahren, jüdischen Eigentümer aber hatten den Krieg überlebt und klagten. Zwar kam die Bande ins Gefängnis, die alten Eigentümer bekamen ihr Haus wegen Formalitäten trotzdem nicht zurück. Es wurde stattdessen verstaatlicht.
Nach der Wende im demokratischen Polen forderte es dann der Käufer zurück, der es den Kriminellen nach dem Krieg abgekauft hatte – obwohl er wusste, dass sein Kauf damals unrechtmässig gewesen war. Er bekam das Haus. Das war ein Skandal, den Jan Spiewak als einer der ersten an die Öffentlichkeit brachte. Denn der Käufer war der Onkel des Mannes der damaligen Warschauer Stadtpräsidentin.
Ein paar Meter weiter kommen wir auf unserem Stadtspaziergang an einen Platz mit vielen Cafés, mit viel Leben. Mittendrin aber zerfällt ein graues Bauwerk langsam. Man sieht so etwas in Warschau erstaunlich oft an bester Lage. Das passiere, sagt Jan Spiewak, wenn die falschen Leute Gebäude bekämen. «Wenn die Besitzverhältnisse so unklar sind, dass ihnen niemand die Gebäude abkauft, lassen sie sie einfach zerfallen.»
Eine Strasse weiter steht wieder ein perfekt renoviertes Bürgerhaus, das nach dem Ende des Kommunismus in Polen privatisiert wurde. Jan Spiewak sagt, es sei – wie so viele andere – weit unter Marktwert verkauft worden. Alle Mieterinnen und Mieter seien hinausgeworfen worden.
Dann kam der Luxus-Umbau. Inzwischen wohnten Chefs von Medienunternehmen und Diplomaten in den schönen Wohnungen. «Das zeigt meiner Meinung nach, wie gross die Rolle der Korruption gewesen ist bei vielen Privatisierungen», sagt Spiewak.
2015 aber war Schluss mit dem Privatisierungsreigen in Warschau: Die Konservativen lösten die Liberalen an der Macht ab. Es gab Untersuchungskommissionen, Gerichtsurteile – und ein neues Gesetz. Nach 30 Jahren, heisst es dort, kann man Entscheidungen polnischer Behörden zur Verstaatlichung von Grundbesitz – auch fragwürdige – nicht mehr anfechten.
Die Idee ist: Niemand soll nach Jahrzehnten Schulen oder Parks für sich beanspruchen, womöglich mit gefälschten Dokumenten. Politiker Jan Spiewak findet das gut. «Erst die jetzige Regierung hatte die Macht, all den Anwälten in schönen Anzügen zu sagen, sie sollten sich verziehen.»
Empörung in jüdischen Kreisen
In Israel und in den USA empört sich nun die Politik: Antisemitisch sei das, so könnten ja Holocaust-Überlebende ihren Besitz nicht mehr zurückfordern. Der Jude Spiewak aber sagt: Das neue Gesetz gelte für alle. Tatsächlich dürfte es viel mehr Polen als Jüdinnen betreffen, ganz einfach deshalb, weil vor dem Krieg mehr Polen als Juden in Warschau lebten. Jan Spiewak findet auch: «Man kann doch nicht heute jemandem schaden, um Leute zu entschädigen, die vor 70 Jahren etwas verloren haben.»
Die Kritiker des Gesetzes sagen: Man kann doch nicht Familien ihren Besitz vorenthalten, denen die Nazis und Kommunisten alles weggenommen haben. Diese Geschichte zeigt auf jeden Fall: Nach so langer Zeit ist Gerechtigkeit fast unmöglich.