«Wenn ich gewählt werde, werde ich ein anderer Präsident sein». Das versprach Recep Tayyip Erdogan seinen Anhängern im Wahlkampf vor gut fünf Monaten. Und tatsächlich hat die Türkei einen solchen Präsidenten noch nicht gesehen.
Einmischung in Partei- und Tagespolitik
«Ob sie es wollen oder nicht. In diesem Land wird es Osmanisch-Unterricht geben!», verordnete Erdogan seinen Landsleuten im Dezember. Kurz darauf führten zumindest die religiösen Imam-Hatip-Gymnasien die Sprache als Pflichtfach ein. Die zwölf Präsidenten vor ihm verstanden ihre Rolle als repräsentativ. In tagespolitische Entscheidungen und das tägliche Hickhack zwischen Regierung und Opposition mischten sie sich nicht mehr ein.
Zwar gab auch Präsident Erdogan den Vorsitz der von ihm mitgegründeten Partei AKP auf. Unparteiisch ist er deswegen noch lange nicht: «Wenn sie euch fragen, wer der beste Lügner in der Türkei ist. Dann antwortet, sie sollen den Vorsitzenden der Oppositionspartei fragen», rief er erst vor wenigen Wochen in einen Saal voller anatolischer Geschäftsleute.
Gewaltentrennung in Frage gestellt
Gerade weil er sich in parteipolitische Debatten einmischt, gerade weil er auch als Präsident die Titelseiten der Zeitungen beherrscht und gerade weil er nicht tut, als stünde er über den Dingen, feiern seine Anhänger Erdogan als den wohl stärksten Präsidenten, den die Türkei je hatte.
«Ich verstehe nicht, was daran stark sein soll», kritisiert dagegen Orhan Bursali, Redaktor bei der säkularen Tageszeitung «Cumhuriyet». Die Verfassung der Türkei fusse auf der Gewaltenteilung. Die Aufgaben von Präsident, Premierminister und Verfassungsgericht seien klar voneinander getrennt. «Aber in der jetzigen Situation erledigt unser Präsident nicht nur seine eigenen Aufgaben, sondern auch die des Premiers!», so Bursali weiter.
Und das tut Erdogan, ganz ohne es zu verheimlichen. Schon kurz nach seiner Amtsübernahme richtete er zwölf so genannte «Managementbüros» in seinem Palast in Ankara ein. Zusätzlich zu den 21 regulären Ministerien kümmern die sich unter alleiniger Weisung des Präsidenten um die Geschicke der Türkei. Die Opposition spricht von einem «Schattenkabinett».
Keine Widerrede des Premiers
Dass Erdogan auch darauf beharrt, regelmässig den Ministerrat zu leiten – eigentlich die Aufgabe von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu -, passe dazu, stellt Bursali weiter fest.
Von dem einst so selbstbewussten Aussenminister und heutigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu ist keine Rebellion gegen das Ungleichgewicht in Ankara zu erwarten. Er dürfte ja gewusst haben, was auf ihn zukommt, als er den Job als «Premier von Erdogans Gnaden» angenommen hatte.
Kein Verstoss gegen die Verfassung
Solange also die Opposition es nicht schafft, die Erdogan weiter treu ergebene AKP bei den Parlamentswahlen im Juni zu stoppen, wird es wohl keiner können. Denn ob es Erdogans Gegnern gefällt oder nicht: «Der aktuelle Zustand widerspricht vielleicht dem Geiste, in dem unsere Verfassung geschrieben wurde; aber er verstösst gegen keinen konkreten Paragraphen», erklärt Ergun Özbudun, Professor für Verfassungsrecht in Istanbul.
Das gilt auch für die Leitung des Ministerrates, die Präsident Erdogan heute übernehmen will. Laut Özbudun heisst es in der Verfassung: «Wenn nötig, kann der Präsident Kabinettssitzungen leiten.» Erdogan könne also immer sagen, die Verfassung verleihe ihm das Recht dazu und er nutze es.
Und so bleibt am Ende nur ein grosses Versprechen, das Erdogan in den ersten fünf Monaten seiner Amtszeit nicht einlösen konnte: Der Präsident aller 77 Millionen Türken, ist er bisher nicht geworden.