Im Vorfeld des EU-Gipfels von Ende Woche ist es verstärkt zu bilateralen Gesprächen zwischen einzelnen Ländern gekommen – so zwischen Deutschland, Frankreich, Italien oder Spanien. Ist das ein Zeichen, dass sich die EU in Richtung «zwei Geschwindigkeiten» entwickelt? Die Antwort auf diese Frage hat Professor Rolf Weder von der Uni Basel.
SRF News: Wie deuten Sie die Tatsache, dass die Gespräche und Sondierungen zwischen einzelnen EU-Ländern scheinbar zunehmen – und weniger nach Lösungen in multilateralen Treffen mit allen 28 EU-Staaten gesucht wird?
Rolf Weder: Die verschiedenen einzelnen Diskussionen und die Uneinigkeit unter den EU-Staaten ist eine Folge davon, dass die EU den einzelnen Staaten immer mehr Kompetenzen wegnimmt und nach Brüssel verlagert. Denn die einzelnen Länder haben dazu sehr unterschiedliche Vorstellungen.
Worauf läuft das aus Ihrer Sicht hinaus?
Irgendwann muss eine ausführliche Grundsatzdiskussion darüber geführt werden, wer bei dieser Entwicklung überhaupt mitmachen will – was nötig ist, damit die EU wieder funktionsfähig wird – und wer nicht mitmachen will.
Es braucht eine Grundsatzdiskussion darüber, wer bei einer weiteren Zentralisierung mitmachen will.
Derzeit wird eher so politisiert, dass eine kleine Gruppe von Staaten politische Entscheide vorwegnimmt, und die anderen Länder dann nicht mehr viel dazu zu sagen haben. Das betrifft viele Politikgebiete, aktuell gerade die Migrationspolitik. Doch so kann man in der EU nicht weitermachen – es braucht jetzt eine Diskussion. Als Ergebnis wird man vielleicht zum Schluss kommen, die EU künftig in zwei verschiedenen Gruppen von Ländern weiterzuentwickeln.
Neben der EU könnte es auch noch eine andere Art der Integration in Europa geben.
Sie sprechen vom «Europa der zwei Geschwindigkeiten», eine Idee, die schon länger herumgeistert.
Genau. In diesem Zusammenhang muss man sich auch fragen, was mit dem Rest von Europa geschieht. Dazu gehört bald Grossbritannien, die Schweiz gehört bereits dazu wie auch ein paar andere Länder. Vielleicht kommt es auf einer neuen Grundlage zu einer Diskussion, die das Zusammenleben in Europa in einen etwas grösseren Rahmen setzt: So könnte es neben der EU ja auch noch eine andere Art der Integration in Europa geben. Dann hätten die Länder Europas eine gewisse Wahl.
Wäre das nicht das Ende der europäischen Zusammenarbeit in der heutigen Form?
Nein. Es gibt ja heute schon andere Formen der Zusammenarbeit. So gibt es etwa die Efta, die seit mehr als 50 Jahren besteht. Bei der Efta geht es um die wirtschaftliche Zusammenarbeit, aber nicht um Zentralismus. Man lässt den einzelnen Ländern viel mehr Freiraum als in der EU und strebt nur in jenen Bereichen eine Zusammenarbeit an, die im Interesse der einzelnen Länder liegen.
Ist der Rückzug ins Nationalstaatliche wirklich die richtige Antwort – in einer globalisierten Welt, in der viele Probleme wie die Migration oder der Klimawandel nur gemeinsam angegangen werden können?
Es ist kein Rückzug in die Autarkie ohne Austausch und ohne gegenseitige Gespräche. Am Schluss sind die einzelnen Nationalstaaten dafür verantwortlich, dass innerhalb ihres Landes zum Beispiel die Infrastruktur funktioniert. Trotzdem können die Länder zusammenarbeiten.
Probleme könnten so noch besser gelöst werden.
Der Klimawandel etwa verlangt, dass die Zusammenarbeit weltweit geschieht. Auch bei der Migration muss man zusammenarbeiten, hier aber eher im Bereich Europa und der umliegenden Länder. Wenn die Nationalstaaten also ihre Eigenverantwortung wahrnehmen und auf einer sinnvollen Ebene miteinander kooperieren, dann gibt es sogar eine Chance, die bestehenden Probleme noch besser zu lösen.
Die Tendenz zu bilateralen Absprachen in der EU ist also ein Zeichen, dass sich die Europäische Union weiterentwickeln und bewegen muss?
Ja. Das Signal muss endlich erkannt werden, dass innerhalb der EU-Staaten unterschiedliche Vorstellungen vorhanden sind. Einfach zu sagen, dass jene, die jetzt nicht mit den Vorschlägen aus Paris und Berlin einverstanden sind, schlechte Europäer sind, ist eine sehr schlechte Politik.
Am Schluss zählt einzig, dass die Bürgerinnen und Bürger die Politik mittragen.
Es kann sogar sein, dass die Kritischen gerade darauf hinweisen, dass es alternative Formen der Zusammenarbeit gibt, welche die nationale Souveränität mehr schonen, die im Gegenzug aber von den Bürgerinnen und Bürgern stärker mitgetragen und unterstützt wird. Und am Schluss ist es das, was zählt.
Das Gespräch führte Christoph Kellenberger.