Brennende Häuser, Menschen, die vor Explosionen davonrennen, trauernde Mütter: Im Herzschlag-Rhythmus wechseln sich Bilder aus dem Kriegsalltag auf wandfüllenden Bildschirmen ab. Die Ausstellung im Ukraine-House am WEF führt es noch einmal drastisch vor Augen: Die Ukraine befindet sich mitten im Kampf um die eigene Existenz.
«Dieser Kampf ist ein Wendepunkt in der Weltgeschichte», sagt Timothy Snyder, Geschichtsprofessor an der Universität Yale. Vergleichbar mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, die beide radikale Veränderungen brachten.
Putin kann die Existenz einer lebendigen Demokratie in unmittelbarer Nachbarschaft nicht tolerieren
«Bereits jetzt lassen sich historische Verschiebungen feststellen», so Snyder. Der Historiker verfolgt Geschichte und Gegenwart der Ukraine seit Jahrzehnten. Seit Beginn des Krieges wirbt er weltweit um Unterstützung für das Land. Für ihn ist auffällig, wie die Ukraine in den letzten zwei Jahren zum ebenbürtigen Partner geworden sei: «Statt wie noch vor dem Krieg Entscheide zur Ukraine über den Kopf der Ukraine hinweg zu beschliessen, begegnet man sich nun auf Augenhöhe.»
In dieser Kolonialgeschichte sieht Snyder auch die Wurzeln des aktuellen Konflikts. Das zeige sich stark in der Rhetorik von Wladimir Putin: «Einem anderen Volk, einem anderen Staat, die Souveränität abzusprechen, steht ganz in der Tradition des europäischen Kolonialismus.» Hinzu komme die unterschiedliche Entwicklung der Ukraine und Russlands seit dem Ende der Sowjetunion – ein weiterer Grund für den Krieg: «Putin kann die Existenz einer lebendigen Demokratie in unmittelbarer Nachbarschaft nicht tolerieren», sagt Snyder.
Den postsowjetischen Raum – als gemeinsamen Kulturraum – gebe es spätestens seit dem russischen Angriff nicht mehr: Zu verschieden sind die Modelle der beiden, aus seiner Sicht, wichtigsten Nachfolgestaaten der UdSSR. Der Imperialismus Russlands stehe der Demokratie der Ukraine gegenüber.
Neuer Schub für die europäische Idee?
Doch die wohl offenkundigste Verschiebung seit Kriegsbeginn hat im europäischen Machtgefüge stattgefunden. Die Stimmen einiger osteuropäischer Länder – etwa Polens oder der baltischen Staaten – haben nun mehr Gewicht. Die Nato ist im Nordosten gewachsen. Und: Die Ukraine und Moldau haben sich für den europäischen Weg entschieden und verhandeln mit der EU über einen Beitritt. «Dies bietet die einmalige Gelegenheit, der europäischen Idee neuen Schub zu verleihen», meint Snyder.
Auf lange Sicht reiche das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr als Legitimationsgrundlage. Die Integration der Ukraine nach einem Ende des Krieges könnte die EU dagegen wieder zu einem echten Friedensprojekt machen.
Der Krieg in der Ukraine – so absurd es klingt – biete aber auch eine Chance für Russland – wenn das Land den Krieg verliere. Die Geschichte zeigt laut Snyder: Imperien, wie Russland noch eines sei, veränderten sich nur durch Niederlagen im Krieg: «Zahlreiche europäische Staaten haben im letzten Jahrhundert imperiale Kriege verloren.» Deutschland den Zweiten Weltkrieg, Frankreich im damaligen Indochina und in Algerien. Diese Niederlagen hätten zum Umdenken und zur Bildung der EU geführt.
Eine Niederlage im Krieg könnte in Russland ähnliche Entwicklungen auslösen, ist Snyder überzeugt. «Sollte Russland aber weiterhin Kriege gewinnen, so gibt es für das Land keinen Grund, sich zu verändern», schliesst der Historiker.