Atomwaffen sind gerade wieder ein grosses Thema. Da ist es kaum ein Zufall, dass gerade jetzt die Universität St. Gallen (HSG) – zusammen mit der Münchner Sicherheitskonferenz und der Hertie School in Berlin – ein neues Forschungsprojekt zu Nuklearwaffen lanciert. Co-Leiter der «European Nuclear Study Group», James Davis, erklärt, worum es dabei geht.
SRF News: Wie kommt es gerade jetzt zu diesem Forschungsprogramm über die nukleare Bedrohungslage Europas?
James Davis: Ich beobachte seit einigen Jahren politische und technologische Veränderungen, welche die Abschreckungsstrategie des Westens infrage stellen könnten. Dem sollte man nachgehen – und herausarbeiten, was das für Europa und die europäische Sicherheit bedeutet.
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Ist Europa also bedrohter als auch schon?
Das ist genau die Frage, mit der wir uns beschäftigen. Im Osten haben wir mit Russland eine revisionistische Macht, die mit den bestehenden Grenzen offenbar nicht mehr einverstanden ist und versucht, diese mit militärischer Macht zu verschieben.
Wir müssen über die Frage der nuklearen Abschreckung nachdenken.
Und im Zuge des Krieges gegen die Ukraine ist Moskau zumindest rhetorisch auch bereit dazu, im Extremfall auf Atomwaffen zurückzugreifen. Wir müssen uns also Gedanken darüber machen, ob unsere Situation in Europa, was die nukleare Abschreckung betrifft, zufriedenstellend ist.
Bislang sind in der Ukraine ausschliesslich konventionelle Waffen eingesetzt worden. Was hat sich hinsichtlich der Atomwaffen verändert?
Wir haben es sehr wohl mit einem nuklearen Krieg zu tun – denn es herrscht erstmals Krieg in Europa, seitdem wir uns im nuklearen Zeitalter befinden. Erstmals seit 1945 greift ein Staat einen anderen Staat auf breiter Front mit militärischen Mitteln an – und damit haben wir kaum Erfahrung.
Die Atomwaffen im Hintergrund haben Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges in der Ukraine.
Jeder weiss, dass es die Atomwaffen im Hintergrund gibt, auch wenn sie bisher nicht eingesetzt wurden. Das hat Auswirkungen auf den Verlauf des Krieges, auch des konventionellen. Ausserdem stellt sich die Frage, ob es zu einer Situation kommen kann, in der Putin sich gezwungen fühlt, nukleare Waffen einzusetzen. Was passiert danach? Haben wir uns genügend Gedanken gemacht für den Tag danach? Nein, das haben wir nicht. Das ist die Aufgabe unserer Forschungsgruppe in den nächsten Monaten.
In Europa läuft die Debatte um eigene Atomwaffen und den möglichen Rückzug der USA aus Europa. Muss sich Europa also neu aufstellen?
Die Amerikaner werden ihren atomaren Schutzschirm kurzfristig kaum zurückziehen. Aber wir müssen uns überlegen, was passiert, wenn ein Land, das nicht der Nato angehört, mit Atomwaffen angegriffen wird. Wie weit sind wir bereit zu gehen und die Ukraine dann zu unterstützen?
Die Europäer haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht.
Diese Überlegungen haben ihren Ursprung schon vor dem russischen Grossangriff auf die Ukraine – und jetzt müssen wir uns fragen, inwieweit sie für die Sicherheit Europas relevant sind. Sicher ist schon jetzt: Die Europäer haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht, die Amerikaner dagegen sind schon viel weiter in ihren Diskussionen.
Muss Europa selbst ein Atomwaffenprogramm auflegen?
Es kann sein, dass wir zu diesem Schluss kommen, aber zuerst müssen wir eine Bestandesaufnahme machen – erst danach kann man über allfällige Massnahmen nachdenken. Die Diskussion in Deutschland um einen eigenen Atomschirm finde ich etwas hysterisch und von der Tagespolitik getrieben – statt von fundierten Überlegungen.
Das Gespräch führte Sandro della Torre.