Das Mitte-Rechts-Bündnis EVP hat bei der Europawahl zugelegt und ist weiterhin stärkste Fraktion – in vielen Ländern haben zudem rechte Parteien zugelegt. In Deutschland kommt die AfD auf knapp 16 Prozent, in Italien kommen die rechten Parteien zusammen auf fast 50 Prozent – besonders deutlich ist das Zeichen in Frankreich, wo die extreme Rechte von Marine Le Pen 30 Prozent holt und Präsident Emmanuel Macron Neuwahlen ausgerufen hat. Europa-Experte Andreas Müller von der Universität Basel über die Gründe der Verschiebung.
SRF News: Kann man bei dieser Europawahl von einem Rechtsruck sprechen?
Andreas Müller: Ich würde mit einem «Ja, aber» antworten. Klar ist, dass Parteien der Mitte und rechts von der Mitte gewonnen haben. Es hat in verschiedenen Ländern in der EU auch eine Stärkung von radikaleren Kräften auf der rechten Seite gegeben. Aber: Das ist nicht so deutlich ausgefallen, wie manche befürchtet haben. Wenn man anschaut, wie das Europäische Parlament funktioniert, wird es gewisse Verschiebungen in der Politik geben – aber es ist nicht so, dass etwas im politischen Spektrum in der EU gekippt wäre, was der Begriff «Rechtsruck» suggeriert. Im Parlament mit über 700 Mitgliedern sind die Verschiebungen insgesamt nicht so gewaltig.
Viele Leute haben sich hier wohl mehr von Botschaften wie Sicherheit und ‹besser auf sich selber schauen› angesprochen gefühlt.
Was sind die Hauptgründe, die zu dieser Verschiebung nach rechts geführt haben?
Es gibt im Gesamtblick Themen, die für alle beherrschend waren. Da wäre zunächst das Thema Asyl und Migration, das in vielen Ländern eine grosse Bedeutung hat, dann der Klimawandel und die Suche nach der richtigen Mischung aus Klimaschutz und wirtschaftlichen Aspekten. Dazu kommt die aussenpolitische Unsicherheit mit den Kriegen in der Ukraine und Nahost. Viele Leute haben sich hier wohl mehr von Botschaften wie Sicherheit und «besser auf sich selber schauen» angesprochen gefühlt.
Gerade wenn man die Resultate von Deutschland und Frankreich anschaut – kann man hier von einer «Denkzettel-Wahl» für die Regierungen sprechen?
Das ist eine klassische Funktion, die die Europawahlen einnehmen können. Es ist eine Gelegenheit, in der nationalen Konstellation zum Ausdruck zu bringen, was passt und was nicht. Für Deutschland, Frankreich oder auch Österreich passt die Bezeichnung bei dieser Wahl. Aber es sind eben 27 nationale Wahlen – in Ungarn wurde auch die Orban-Partei etwas abgestraft – in Polen wurde auf der anderen Seite die regierende Partei von Donald Tusk gestärkt. Dort hat sich das Volk gerade erst von der lange Zeit regierenden PiS-Partei abgewendet. Wir beobachten also nicht generell eine Verschiebung nach rechts – die Wahl bot auch eine gute Gelegenheit aus Sicht der Bevölkerung an der Urne zum Ausdruck zu bringen, dass man nicht einverstanden ist, wie es läuft.
Könnte das Pendel bei der nächsten nationalen Wahl also auch wieder in die andere Richtung schwingen?
Neben der Denkzettel-Funktion können Europawahlen auch eine andere Funktion haben – zum Beispiel eine Mobilisierungs- oder eine Selbstbesinnungsfunktion. Das ist das, was Macron jetzt in Frankreich mit den Neuwahlen anstrebt. Das politische Signal dürfte hier sein: «Jetzt geht’s ums Ganze» – also will man als Volk weiter in diese Richtung gehen oder setzt man doch eher auf Mitte-Kräfte? Schlussendlich haben wir eine Wechselwirkung zwischen den Wahlgängen auf EU- und nationaler Ebene.
Das Gespräch führte Matthias Schmid.