2019 ging es um neun Stimmen. Mit dieser Differenz wurde Ursula von der Leyen vom mehr als 700-köpfigen EU-Parlament zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt. Eine Koalition aus Liberalen, Sozialdemokraten und ihrer eigenen christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP) ebnete ihr hauchdünn den Weg an die EU-Spitze. Und dort würde Ursula von der Leyen eigentlich gerne bleiben. Doch wenige Wochen vor den Europawahlen (6. – 9. Juni) deutet vieles erneut auf ein knappes Rennen hin. Zwar hat von der Leyens EVP erneut gute Chancen, als grösste Fraktion ins EU-Parlament einzuziehen, doch von einer absoluten Mehrheit dürfte sie weit entfernt sein.
«Vor schwieriger Kommissionsbildung»
Bestätigen sich die Wahlumfragen, zeichnet sich eine komplizierte Koalitionsbildung ab. Die rechten Parteien dürften zulegen, Grüne und Liberale – beides mögliche Koalitionspartner für von der Leyen – müssen mit deutlichen Verlusten rechnen. «Wir stehen vor einer schwierigen Kommissionsbildung», sagt EU-Parlamentarier Andreas Schwab von der CDU. Er glaube aber, dass die Kommissionspräsidentin am Ende erneut Ursula von der Leyen sein werde.
Damit das gelingt, schielt Ursula von der Leyen im Moment deshalb deutlich nach rechts. Eine Zusammenarbeit mit der Fraktion der «Konservativen und Reformer», zu der Parteien wie Giorgia Melonis Fratelli d'Italia oder die polnische PiS gehören, will sie nicht ausschliessen. Eine solche Zusammenarbeit hänge stark davon ab, wie sich das Parlament nach der Wahl zusammensetze, sagt sie bloss. Alles offen also.
Doch der Flirt mit rechts könnte sie linke Stimmen kosten. «Sollte Ursula von der Leyen eine Zusammenarbeit mit nationalistischen Parteien vorschlagen, dann werden wir mithelfen, dass sie nach Deutschland zurückkehrt», sagt der italienischen EU-Parlamentarier Brando Benifei, der Teil der sozialdemokratischen Fraktion ist, zu SRF. Auf das rechte Lager zubewegt hat sich von der Leyen etwa in der Umwelt- und Klimapolitik. Die europaweit protestierenden Bauern versuchte die Kommission mit Abstrichen beim «Green Deal» zu beruhigen. Entsprechend deutlich ist die Kritik auch im grünen Lager im EU-Parlament. «Es ist für uns Grüne schwierig, Ursula von der Leyen noch zu vertrauen», sagt der französische EU-Parlamentarier David Cormand.
Vorwurf «Günstlingswirtschaft»
Und dann ist da auch noch ihre Personalpolitik. Sie wollte ihren Parteifreund Markus Pieper zum sogenannten KMU-Beauftragten der EU-Kommission machen. Dabei soll sie besser qualifizierte Personen übergangen haben. «Günstlingswirtschaft» lautet der Vorwurf aus dem Parlament. Die Affäre wurde zum «Pieper-Gate». Der CDU-Politiker verzichtete schliesslich auf den Posten, doch die Affäre hallt nach.
Sie verärgert auch grosse Teile der liberalen Fraktion. Der deutsche FDP-Parlamentarier Michael Kauch sprach von Günstlingswirtschaft. Seine französische Fraktionskollegin Marie-Pierre Vedrenne sagt: «Die Kommissionspräsidentin hat in der Vergangenheit manchmal Entscheidungen im Alleingang getroffen. Das ist nicht akzeptabel.»
Es wirkt ganz so, als ob es Ursula von der Leyen im Moment niemandem so richtig recht machen kann. Doch will sie Kommissionspräsidentin bleiben, müsste sie es eigentlich allen recht machen. Ob ihr dieser Spagat gelingt? Weniger als vier Wochen vor den Europawahlen ist das eine offene Frage.