Der 78-jährige Kardinal wurde kurz nach dem Entscheid aus der Haft in einem Hochsicherheitsgefängnis bei Melbourne entlassen. Das höchste Gericht Australiens war einem letzten Berufungsantrag seiner Verteidigung gefolgt, die auf vermeintliche Schwächen in der Beweisführung gegen den Kleriker hingewiesen hatte.
Der frühere Erzbischof von Melbourne war im März 2019 wegen des sexuellen Missbrauchs von zwei Chorknaben in den 1990er-Jahren zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt worden. Seine Verteidiger blitzten daraufhin im August letzten Jahres mit einem Berufungsantrag bei einem Gericht in Melbourne ab. Danach gelangten sie an das Obersten Gericht, die letzte Berufungsinstanz.
Chorknaben in der Sakristei missbraucht?
Das Geschworenengericht hatte den Geistlichen 2019 für schuldig befunden, sich 1996 als Erzbischof von Melbourne im Anschluss an eine Messe an zwei Chorknaben sexuell vergangen zu haben. Der damals 55-jährige Geistliche soll die beiden 13-jährigen Kinder in der Sakristei beim Trinken von Messwein ertappt haben.
Danach habe sich der Kardinal – laut Anklage noch immer in voller Messrobe – vor den Kindern entblösst. Einen der Knaben habe er zum Oralverkehr gezwungen. Einen der beiden Buben habe der Geistliche einen Monat später in einem Korridor der Kathedrale noch einmal sexuell bedrängt. Der eine Chorknabe starb Jahre später an einer Drogenüberdosis.
Entlastungszeugen zu wenig berücksichtigt
Im Prozess letztes Jahr waren die Aussagen des überlebenden damaligen Chorknaben zentral gewesen. Das Oberste Gericht befand, dass die Geschworenen den heute 30 Jahre alten Mann für «glaubwürdig, überzeugend und ehrlich» hielten. Sie hätten aber andere Beweise berücksichtigen müssen, die dessen Aussagen infrage stellten.
So hatten mehrere Zeugen gesagt, es sei unwahrscheinlich gewesen, dass Pell unmittelbar nach der Messe in der Sakristei mit den Kindern alleine war. Es habe deshalb «eine erhebliche Möglichkeit bestanden, dass eine unschuldige Person verurteilt wurde, weil die Beweise nicht den erforderlichen Beweisstandard für eine Schuld begründeten», so die Richter des höchsten Gerichts.
Zivilklage gegen Pell eingereicht
Während der Entscheid des Obersten Gerichts den Fall strafrechtlich beendet, wird Pell kaum in den Ruhestand treten können. Nicht nur hat der Vater des verstorbenen Knaben eine Zivilklage gegen den Geistlichen eingereicht. Die Behörden können nun auch die noch ausstehenden Ergebnisse einer Untersuchung zum Umgang der katholischen Kirche mit pädophilen Priestern veröffentlichen.
Pell, einst der mächtigste Katholik in Australien, war schon Jahre vor seiner Verurteilung vorgeworfen worden, verdächtige Geistliche geschützt und sie in andere Kirchgemeinden versetzt zu haben, statt bei der Polizei anzuzeigen. Zudem soll er Opfer weggewiesen haben – zum Teil sehr aggressiv und ohne jegliches Mitgefühl zu zeigen. Er habe sie zum Leiden im Stillen verurteilt, weil ihnen niemand glauben wollte, klagen Angehörige.