Israel will den Krieg im Gazastreifen gegen die Hamas trotz der vielen Zivilisten, die dabei ums Leben kommen, und der desolaten humanitären Lage weiter intensivieren. Im Visier hat Israel namentlich Hamas-Anführer Yahya Sinwar. Vergangene Woche sollen israelische Soldaten Sinwars Haus in Chan Yunis umstellt haben. Sinwar war aber offensichtlich zuvor geflohen. Islamexperte Reinhard Schulze über die Führungsstrukturen der Hamas und darüber, wieso es so schwierig ist, die Organisation zu zerschlagen.
SRF News: Angenommen, Israel könnte Sinwar ausschalten. Wie einschneidend wäre das für die Hamas?
Reinhard Schulze: Es wäre ein starker symbolischer Akt. Für die Hamas selbst bedeutet das aber noch nicht das Ende. Zwar ist Sinwar jemand, der die Organisation politisch stark repräsentiert, aber er hat eben doch eine Entourage, die ihn ersetzen kann. Vor allen Dingen sein jüngerer Bruder Mahmud Sinwar.
Faktisch ist die Hamas heute mehrheitlich eine militärische Organisation.
Also ist Sinwar nicht die einzige Führungsfigur?
Es gibt mehrere, vor allem diejenigen, welche aus Chan Yunis im Süden stammen. Sinwar stammt ebenfalls aus dem Süden, wie auch sein Bruder; aber auch Mohammed Deif. Hier kriegt man den Eindruck, dass es so etwas wie ein Nest von Führungspersonen gibt, die alle aus dieser Region stammen und ein starkes Netzwerk gebildet haben, damit, wenn einer von ihnen ausgeschaltet wird, noch genügend andere Personen dastehen, die ihn beerben würden.
Wie würden Sie die Führungsstruktur der Hamas beschreiben?
Faktisch ist die Hamas heute mehrheitlich eine militärische Organisation. Die ca. 50'000 Kombattanten, die mit Hamas verbunden gewesen sind, spiegeln deutlich den militärischen Aspekt wider. Die Hamas soll insgesamt etwa 80'000 Mitglieder haben. Der politische Flügel, den Sinwar zu vertreten meinte, ist im Grunde doch eher marginal gegenüber dem militärischen Potenzial der Organisation.
Ist die Hamas wie eine Armee organisiert?
Eine klare Befehlsstruktur, wie wir sie etwa in normalen Armeen kennen, dürfte bei der Hamas nicht vorausgesetzt werden. Diese Clusterstruktur erlaubt es der Organisation, in unterschiedlicher Weise auch eigene Kommunalstrukturen aufzubauen, in unterschiedlicher Weise auch militärisch aktiv zu werden. Das Ausschalten eines solchen Clusters, eines solchen Knotenpunktes, bedeutet nicht das Ende der gesamten militärischen Schlagkraft. Aktuell hat Israel mit diesem Problem zu kämpfen. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Hamas sich mit anderen militärisch organisierten Verbänden in Gaza verbündet.
Also würde die Hamas auch ohne Führung funktionieren?
Das tut sie ja auch, hauptsächlich in Chan Yunis. Im Augenblick hat man den Eindruck, dass dort sogenannte Nester den Widerstand gegen die israelische Armee austragen, ohne dass sie dabei auf direkten Befehlsebenen mit anderen Nestern verbunden sind und quasi autonom agieren.
Ein Geflecht zu zerschlagen, ist sehr schwierig.
Ist es überhaupt möglich, die Hamas gänzlich zu zerschlagen?
Ein Geflecht zu zerschlagen, ist sehr schwierig. Man geht davon aus, dass ein Geflecht nur dann ausgehoben werden kann, wenn es mindestens gleichzeitig an mehreren Stellen gelingt, eine solche Struktur zu zerschlagen. Es geht also nicht darum, ein Hauptquartier zu erobern oder ein Hauptquartier zu besetzen, sondern gleichzeitig an verschiedenen Orten dieses Netzwerk zu zerstören und die Verbindungen zu kappen. Deshalb rechnet man auch damit, dass die Kämpfe in Gaza noch monatelang weitergehen können – weil solche Suborganisationen auch weiterhin existieren.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.