Tief unter der Erde erstreckt sich ein Tunnelsystem, das den Gazastreifen mit Ägypten verbindet. Es wird davon ausgegangen, dass die radikal-islamische Hamas durch die mehrere 100 Kilometer langen Tunnel auch Waffen schmuggelt. Die sogenannte «Metro von Gaza» erhält in der aktuellen Eskalation grosse Bedeutung. Nahostexperte Reinhard Schulze ordnet ein.
SRF News: Welche strategische Bedeutung hat das Tunnelsystem im Gazastreifen für die Hamas?
Reinhard Schulze: Für die Hamas ist das Tunnelsystem vor allem eine zusätzliche Verteidigungslinie. Unterhalb von Gaza existiert so eine zweite Schicht, in der die ganze Verteidigungs- und Abwehrstruktur aufgebaut worden ist – sowohl was die militärische Logistik als auch was Versorgungseinrichtungen für die militärischen Einheiten betrifft.
Neben dem Boden- und Luftkampf könnte es auch zu Tunnelkämpfen kommen. Wie wirkt sich das auf den Konflikt aus?
Es bedeutet eine enorme militärische Eskalation, wenn man versucht, gleichzeitig neben der normalen Auseinandersetzung bei einer Bodenoffensive noch gegen ein Tunnelsystem vorzugehen. Man hat im Grunde eine Erweiterung der Fläche um etwa 100 Prozent, indem unterirdisch eine ähnliche Struktur existiert wie oberirdisch.
Heute ist das quasi eine unterirdische Stadt, die neben Gaza existiert.
Man muss im Grunde auf zwei Ebenen gleichzeitig militärisch vorgehen. Das verlangt, dass eine grössere Anzahl von Truppen im Gebiet eingesetzt wird. Deshalb hat die israelische Armee fast 300’000 Soldatinnen und Soldaten mobilisiert. Dies deutet darauf hin, dass eine solche militärische Auseinandersetzung, eine Besetzung Nordgazas, auch zu einer starken militärischen Konfrontation führen wird.
Wie ist das Tunnelsystem aufgebaut?
Es ist in einer Tiefe von 20 bis 40 Meter unterhalb der Siedlungsgebiete in Gaza eingerichtet. Die Tunnel haben heute eine Gesamtlänge von mindestens 300 Kilometer. Zunächst waren es nur Tunnel, die aus Ägypten in den Süden von Gaza führten und der Hamas den Schmuggel von Konsumgütern und militärischem Arsenal ermöglichten. Es waren Versorgungstunnel, militärische Tunnel und Fluchttunnel in einem. Erst in den letzten 20, fast 30 Jahren wurden sie bis in die Siedlungsgebiete von Gaza ausgebaut. Heute ist das quasi eine unterirdische Stadt, die neben Gaza existiert.
Die israelische Armee hat mehrmals vergeblich versucht, das Tunnelsystem unschädlich zu machen. Warum sind die Tunnel so schwierig zu zerstören?
Das liegt an der Anzahl dieser Tunnel. Wir gehen davon aus, dass es etwa 1000 Tunneleinrichtungen unterhalb von Gaza gibt. Die israelische Armee war 2014 in der Lage, 32 dieser Tunnel zu zerstören. Daran kann man sehen, wie schwierig es ist, überhaupt eine flächendeckende Aktion zu starten. Das Tunnelsystem ist noch nicht komplett kartiert und man weiss daher nicht genau, wohin welche Tunnel reichen und wo begehbare Stellen existieren. Das ist selbst für die hoch informierte israelische Armee eine enorme Herausforderung.
Könnte Israel die Tunnel mit einer Bodenoffensive zerstören?
Die israelische Armee will die Hamas ausschalten. Das bedingt notwendigerweise auch, die Infrastruktur der Hamas und damit die Tunnel so gut es geht zu zerstören. Das wird vielleicht gelingen, wenn die lokalen Kommandanten nicht mehr in der Lage sind, untereinander zu kommunizieren. Wenn die Tunnelsysteme militärisch voneinander getrennt werden, hat die israelische Armee eine grössere Chance, nach und nach die Tunnelsysteme zu kontrollieren, um sie schliesslich dem Erdboden gleichzumachen.
Das Gespräch führte Oliver Kerrison.