Der Fluss Tornionjoki zeigt sich mitten im Winter bei Tagestemperaturen von bis zu -35 Grad von seiner freundlichen Seite. Er ist mit einer dicken Eisschicht und reichlich Schnee zugedeckt. Er ermöglicht es den Menschen, an beiden Ufern des finnisch-schwedischen Grenzflusses den breiten Strom zu überqueren.
Während westlich des Flusses die dichten Wälder dominieren, gibt es östlich davon in Finnland noch viele Landwirtschaftsbetriebe. Seit bald zwanzig Jahren betreiben Jaana Väisänen und Petri Leinonen in Kukkola einen Hof mit 280 Schafen: «Die Banken haben uns immer gut unterstützt», sagt Väisänen. Hinzu kommen, so Leinonen, die staatlichen Zuschüsse für die Landschaftspflege: «Unsere Schafe sorgen im Sommer auf den Naturwiesen der Umgebung dafür, dass das Land nicht zuwächst.»
Etwa zwanzig Kilometer weiter südlich liegt die Stadt Tornio, wo der Tornefluss in die Ostsee fliesst. Hier leben gut 25'000 Menschen am wichtigsten Grenzübergang Finnlands in Richtung Westen: «Der russische Angriffskrieg hat die Lage auch für uns hier im Norden Finnlands grundlegend verändert. In Tornio befindet sich jetzt die einzige offene Schienenverbindung nach Europa», sagt Jukka Kujala, der Bürgermeister von Tornio.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion und als Mitglied der Europäischen Union versuchte Helsinki Finnland zu einer Brücke zwischen Ost und West zu machen. Diese Pläne sind nun begraben. Stattdessen richtet sich das nordische Land ganz nach Westen aus.
Tornio biete Anschauungsunterricht dafür, wie dies gelingen kann, sagt die Grenzkoordinatorin der Gemeinde, Hanna-Leena Ainonen: «Nach dem EU-Beitritt Schwedens und Finnlands vor dreissig Jahren verschwanden die Schlagbäume an unserer gemeinsamen Grenze und wir sind mit dem schwedischen Grenzort Haparanda zusammengewachsen».
Im Rennen um das finnische Präsidentenamt spielt die Abwendung von Russland eine dominierende Rolle. Von der Bedeutung der ländlichen Gebiete in Nordfinnland für eine vertiefte Hinwendung nach Europa wird jedoch wenig gesprochen.
Nach Ansicht von Antti Kaarlela, einem aktiven Gewerbetreiber und Mitglied des Stadtparlamentes von Tornio, ist das nicht weiter schlimm. Denn das künftige Staatsoberhaupt müsse sich vor allem um die ganz grossen Fragen der Weltpolitik kümmern: «Meiner Meinung nach bringt Alexander Stubb die besseren Voraussetzungen für dieses Amt mit». Etwas anderer Meinung ist der Schafsbauer Petri Leinonen: «Pekka Haavisto kennt das Land nördlich von Helsinki besser und hat mehr Verständnis für das ländliche Finnland.»
Alexander Stubb dürfte das Rennen machen
Kaarlelas und Leinonens Aussagen machen deutlich, wo die Bruchlinien in der finnischen Gesellschaft vor der Stichwahl vom Sonntag verlaufen – und weshalb wohl eine knappe Mehrheit dem 55 Jahre alten Stubb den Vorzug gegenüber dem zehn Jahre älteren Haavisto geben wird.
Dabei gelten beide Anwärter als Vertreter des urbanen und liberalen Finnlands. Als neues Staatsoberhaupt wird sich einer von ihnen jedoch verstärkt um die Entwicklung des nördlichen Finnlands kümmern müssen. Denn die geopolitische Bedeutung der Region am Polarkreis wird in den kommenden Jahren massiv zunehmen.