Vor einem Monat flüchtete Zarifa Ghafari vor den Taliban. Via Islamabad, Istanbul und Köln landete Afghanistans jüngste Bürgermeisterin im deutschen Hilden. Doch in Gedanken sei sie noch immer in Afghanistan, erzählt die 29-Jährige in einem Strassencafé. «Ich kann keinen Moment an etwas anderes denken als an mein Land, meine Landsleute, besonders an die Frauen.»
Ich kann keinen Moment an etwas anderes denken als an mein Land, meine Landsleute, besonders an die Frauen.
Sie kämpfte dafür, dass sich Frauen beruflich entfalten können, als Bürgermeisterin in Maidan Shar, der Hauptstadt der konservativen Provinz Wardak. Zuvor hatte sie einen Radiosender für junge Frauen gegründet. Ihr Engagement gefiel nicht allen.
Am ersten Arbeitstag im Juli 2018 verbarrikadierten Männer ihren Amtssitz. Ein Mob, bewaffnet mit Steinen und Stöcken, bedrohte sie. Aus Sicherheitsgründen musste Zarifa Ghafari nach Kabul eskortiert werden. Doch sie kehrte immer wieder nach Maidan Shar zurück. Nur in den letzten Monaten vor der Machtübernahme der Taliban wurde das zu gefährlich.
Ich weiss nicht, wo sie sind. Wir sorgen uns um diese Frauen.
Im Stadthaus zurückgeblieben sind einige Frauen, die sie als Bürgermeisterin eingestellt hatte. Allerdings ist der Kontakt zu den Mitarbeiterinnen abgebrochen. «Sie nutzen nicht mehr dieselben Telefonnummern. Ich weiss nicht, wo sie sind. Wir sorgen uns um diese Frauen.»
Ghafari orientiere sich nicht an einem westlichen Geschlechterbild. Den bärtigen Mullahs in Kabul möchte sie folgendes zu verstehen geben: «Wir – die afghanischen muslimischen Frauen – wollen dieselben Rechte, wie sie Frauen in der pakistanischen Regierung haben. Wir wollen dieselben Rechte, wie sie Frauen in anderen muslimischen Ländern haben. Oder seid ihr etwa die besseren Muslime?»
Dreimal versuchten die Taliban die studierte Ökonomin umzubringen. Stattdessen hätten die Extremisten ihren Vater getötet, einen Offizier in der afghanischen Armee, erzählt Ghafari. Das Exil wird die Politikerin nicht zum Schweigen bringen. Im Gegenteil. Hier im Westen findet sie gerade eine Riesenöffentlichkeit.
Was sie damit konkret bewirken kann, ist ungewiss. Immerhin lenkt die Hektik vom Schmerz ab, den sie empfindet. «Stellen Sie sich vor, ein Mensch setzt eine Pflanze und pflegt sie 20 Jahre lang. Daraus wird ein grosser, schöner Baum. Dann passiert diesem Baum innerhalb eines Tages was.» Wie sich das anfühlt, was das bedeutet, könne sich nur vorstellen, wer das schon erlebt habe.
War diese Pflanze tatsächlich so prächtig? Wurde sie nicht zunehmend auch vom Unkraut der Korruption umschlungen? Ghafari stellt nicht in Abrede, dass der afghanische Staat, wie er bis zum Einmarsch der Taliban existierte, an vielem krankte.
Keine Kritik mehr möglich
Die Bevölkerung lebte ständig in Angst vor Anschlägen. «Aber immerhin stand es uns zu, Mächtige korrupt zu nennen und ihnen zurufen: ‹Hört auf›». Nun könne niemand in Afghanistan Mullah Baradar fragen, wieso er dies oder das getan hat. «Die Taliban würden gleich auf die Kritiker schiessen.»