Menschenleerer Wald, schneebedeckte Felder. Das Grenzgebiet beim Dorf Silene, ganz im Südosten Lettlands, ist ein vergessener Winkel des Landes. Der nahe Grenzübergang zu Belarus ist geschlossen, alle verfügbaren Kräfte der Grenzwache werden für die Überwachung der grünen Grenze gebraucht. Sogar das Militär hilft mit. Denn Lettland hat – im Unterschied zu den Nachbarn Litauen und Polen – den Grenzzaun zu Belarus noch nicht ganz fertig gebaut.
Lettland ist sozusagen die Schwachstelle der Region: Denn noch immer schickt das Regime in Belarus Flüchtende gezielt an die EU-Grenzen, derzeit bevorzugt an die Grenze zu Lettland.
Bis zu 250 illegale Grenzübertritte hätten sie an gewissen Tagen gezählt, erzählt der Grenzwächter Vladimir Schersts. Und er sagt auch, der Grenzzaun solle bis Ende Jahr fertig gebaut sein, zusammen mit der dazugehörigen Infrastruktur: neue Wege entlang des Zauns, Überwachungskameras und Sensoren.
Der Zaun ist keine Steinmauer, man kann ihn überwinden. Aber er gibt uns mehr Zeit zu reagieren.
Doch auch der fertig gebaute Zaun werde beschädigt oder aufgeschnitten, mit speziellem Werkzeug. Und wahrscheinlich mithilfe der belarussischen Grenzwächter. Schersts sagt: «Der Zaun ist keine Steinmauer, man kann ihn überwinden. Aber er gibt uns mehr Zeit zu reagieren.»
Reagieren gemäss dem Gesetz, das in Lettland seit diesem Sommer gilt. Man will damit irreguläre Grenzübertritte unterbinden oder – wie Menschenrechtsorganisationen es formulieren – man drängt die Menschen zurück.
Das Ziel ist Deutschland
Was tut Grenzwächter Schersts, wenn er auf erschöpfte, halb erfrorene Flüchtende trifft? Dann untersuche man, ob diese Personen medizinische Hilfe benötigten. Wenn ja, dann rufe man die Ambulanz. Je nach Resultat der Untersuchung dürften sie aus humanitären Gründen bleiben oder man unterbinde den illegalen Grenzübertritt.
Das heisst im Klartext: Verletzte und besonders verletzliche Personen können Asyl beantragen, die anderen werden wieder über die Grenze gebracht.
Doch die Erfahrung der Grenzwächter ist, dass die meisten nicht in Lettland bleiben wollen. Ihr Ziel ist Deutschland. Manche der Geflüchteten würden sogar meinen, dies sei die Grenze nach Deutschland, sagt der Kollege von Schersts. Sie würden von den Belarussen falsch informiert und seien völlig überrascht.
Doch es gibt viele, die es über die Grenze schaffen und im Wald warten, bis sie abgeholt werden: von Helfern der Schlepper, die sie nach Westen, nach Deutschland fahren. Ein riesiges Problem für den Staat Lettland, der mit verstärkten Patrouillen und neu mit hohen Strafen für die Helfer der Schlepper entgegenhält.
Monitore halten Schicksale fest
Das Nachbarland Litauen hat eine noch längere Grenze zu Belarus als Lettland. Hier ist der Grenzzaun schon seit September letzten Jahres fertig. Er ist 3.7 Meter hoch, am oberen Ende ist zusätzlich Stacheldraht angebracht. Die Gesetzgebung ist ähnlich wie jene in Lettland.
Der Aufwand, die grüne Grenze zu bewachen, ist immens. Das zeigt ein Besuch in einem Kontrollraum der litauischen Grenzwache: Auf Monitoren sind die Aufnahmen der Überwachungskameras des Grenzabschnitts zu sehen, für den die Station zuständig ist. Mehrere Personen arbeiten hier Tag und Nacht. Auf einem Bildschirm werden die Ausschläge der Sensoren angezeigt; diese sind im Waldboden verlegt, sie registrieren alle Bewegungen im Grenzgebiet.
Der diensthabende Grenzwächter Viktor zeigt eine gespeicherte Videoaufnahme. Es ist Nacht, die Infrarotkamera hat alles aufgezeichnet. Man sieht einen Mann, der zum Zaun kriecht, innert kürzester Zeit mit einer Metallschere ein Loch in das dichte Metallgeflecht schneidet und auf die andere Seite gelangt. Ihm folgen zwei weitere Personen. Doch die Aktion wird im Kontrollraum beobachtet. Eine Patrouille ist schnell zur Stelle und nimmt die drei Personen fest. Es sind junge Männer aus dem Iran, die nach Deutschland wollen. Sie werden nach Belarus zurückgebracht.
Menschen als Spielball zwischen zwei Staaten
In Litauen bleiben hingegen durften ein Somalier und ein Syrer, die sich nun in einem Spital in der grenznahen Stadt Visaginas befinden. Der Preis, den sie dafür bezahlten, ist hoch: ihre körperliche Unversehrtheit.
Die NGO Sienos Grupe, die sich für Flüchtlinge einsetzt, hat von ihrer Anwesenheit im Spital erfahren. Beide Männer haben Erfrierungen erlitten, der Somalier an den Zehen, der Syrer auch an den Beinen. Er hat starke Schmerzen. Die beiden erzählen, dass sie im Grenzgebiet Belarus-Lettland und Belarus – Litauen zusammen mit anderen Flüchtlingen mehrere Pushbacks erlebten und lange im Wald herumirrten. Wegen ihrer Verletzungen konnten die beiden schliesslich in Litauen bleiben, der Rest der Gruppe wurde erneut nach Belarus zurückgedrängt.
Die Mitglieder der Sienos Grupe erkundigen sich bei den Männern, ob sie einen Anwalt erhalten haben und ob sie ein Asylgesuch stellen konnten. Das ist der Fall. Sie bieten ihnen an, die Angehörigen zu kontaktieren und organisieren ihnen zusätzliche Kleider und ein zweites Handy, denn sie haben nur eines, das sie teilen müssen.
Unentdeckte Tote
Mantautas Sulskus ist Mitbegründer der Sienos Grupe. Er sagt, manche Flüchtlinge seien zu wenig gut ausgerüstet für die Bedingungen im Grenzgebiet. Doch auch mit angemessener Kleidung werde es nach mehreren Tagen im Wald und in den Sümpfen, ohne genug Nahrung, in der Kälte und Nässe, lebensgefährlich. Es gab auch schon Todesfälle – wie viele es sind, weiss niemand, manche Leichen sind wohl noch unentdeckt.
Und warum geht kaum jemand den legalen Weg und bittet am offiziellen Grenzübergang um Asyl? Das sei unrealistisch, sagt Sulskus. Denn oft verfügten die Flüchtlinge nicht über die nötigen Dokumente. Ausserdem seien sie den belarussischen Schleppern und Grenzwächtern ausgeliefert, die sie an die grüne Grenze drängten.
Sulskus und seine Mitstreiterinnen versuchen der litauischen Gesellschaft aufzuzeigen, welche Schicksale sich hinter den «illegalen Grenzübertritten» verbergen. Denn die Migrationsproblematik wird in der Regel ausschliesslich als Bedrohung, als hybrider Krieg von Belarus gegen die Nachbarn, verstanden.
Der Zaun führt nur zu noch mehr Leid.
Und wie beurteilt er den Bau des Grenzzauns? Dieser hat die Zahl der Übertritte über die grüne Grenze ja tatsächlich vermindert. Ja, sagt Mantautas Sulskus, aber ganz stoppen könne er die Menschen nicht: «Der Zaun führt nur zu noch mehr Leid.»
Der Somalier ist inzwischen in einer Asylunterkunft untergebracht. Er hat noch Schmerzen in den Zehen, ist aber ansonsten in guter Verfassung. Dem Syrer hingegen mussten beide Beine amputiert werden.