Hanife und Soltan Ahmadi öffnen die Tür. Sie bitten uns, die Schuhe auszuziehen. Wir betreten eine kleine Einzimmerwohnung. Seit Anfang Januar lebt die afghanische Familie Ahmadi in einem Wohnquartier im Süden Athens.
Vater Ahmadi setzt sich und beginnt zu erzählen: «Wir sind aus Afghanistan geflohen, weil es dort zu gefährlich wurde. Wenn Du in Afghanistan aus dem Haus gehst, weisst Du nie, ob Du heil wieder zurückkommst.» Über Iran und die Türkei flüchtete die Familie nach Griechenland. Nach einer gefährlichen Überfahrt erreichte sie die Insel Lesbos.
Soltan Ahmadi beschreibt den ersten Eindruck, den er von Griechenland hatte: «Plötzlich kamen uniformierte Männer auf mich zu. Zu meinem grossen Erstaunen waren die aber nett und freundlich. Sie schlugen nicht, schossen nicht. Sondern gaben uns zu Trinken, zu Essen, warme Decken.» Dafür sei er sehr dankbar.
Zusammenarbeit mit der EU zeigt erste Erfolge
Weil eines der beiden Kinder krank ist, musste die Familie nur kurz im heillos überfüllten Lager von Lesbos ausharren. Schon bald erhielten sie eine Wohnung in Athen zugewiesen. Miete müssen sie keine zahlen. Und jeden Monat erhält die Familie rund 400 Euro. Geld, das die EU über das UNO-Hilfswerk UNHCR Asylsuchenden zur Verfügung stellt.
Zusätzlich hat die Familie Zugang zum griechischen Gesundheitswesen und die Kinder können zur Schule. Die Familie Ahmadi ist ein Beispiel dafür, dass es der griechische Staat zusammen mit der EU geschafft hat, zumindest einen Teil der Asylsuchenden wirksam zu unterstützen.
Dass sich einiges verbessert hat, zeigt sich auch auf dem Viktoria-Platz nahe der Athener Altstadt. 2015 erreichten innert kurzer Zeit beinahe eine Million Frauen, Kinder und Männer das griechische Festland. Damals lebten und schliefen Flüchtlinge und Migranten unter freiem Himmel – auch auf diesem Platz mitten in Athen.
Heute ist das Bild ein anderes. Niemand schläft mehr hier und niemand verteilt mehr Esswaren. Auf dem Platz spielen fröhliche Kinder. Was ist geschehen? Boris Cheshirkov ist Sprecher des UNHCR-Flüchtlingshilfswerks in Athen. Er sagt, die Mehrheit der in Griechenland gemeldeten Flüchtlinge und Migranten erhalte Unterstützung, nämlich knapp 94'000 von 110'000.
Lage spitzt sich weiter zu
Ein Erfolg, bilanziert das UNHCR. Und trotzdem ist dessen Sprecher Cheshirkov sehr besorgt. Denn auf den griechischen Inseln, wo die meisten Asylsuchenden ankommen und oft lange ausharren müssen, habe sich nichts verbessert. Cheshirkov spricht von einer verzweifelten Lage.
Seit gut einer Woche, seit die Türkei ihre Grenze zu Griechenland offenhält, habe sich die Lage nochmals zugespitzt. Tausende, auch Kinder, leben in Hütten oder Zelten, in Schmutz und Kälte. «Das ist unmenschlich», sagt Cheshirkov. Er ruft dazu auf, die Asylsuchenden schnell von den Inseln aufs griechische Festland zu bringen.
Angelos Syrigos ist Parlamentarier der konservativen Regierungspartei «Nea Dimokratia». Auch er spricht von einer schrecklichen Situation. Dass so viele Flüchtlinge und Migranten auf den griechischen Inseln blockiert seien, liege am Abkommen, das die EU mit der Türkei ausgehandelt habe. Brüssel und Ankara vereinbarten vor vier Jahren, dass die Türkei möglichst viele Migranten und Flüchtlinge zurückbehält.
Im Gegenzug bekommt die Türkei von der EU milliardenschwere Unterstützung. Die Türkei versprach damals, dass sie Leute, die nach Griechenland flüchten, wieder zurücknimmt, wenn sie kein Recht auf Asyl haben. Darum habe Griechenland seine Auffanglager, die sogenannten Hotspots, auf den Ägäischen Inseln nahe beim türkischen Festland errichtet.
Träges Asylsystem
Das stimmt. Und trotzdem trägt auch Griechenland dazu bei, dass Zehntausende Asylsuchende auf den Inseln blockiert bleiben. Denn Athen hatte vor vier Jahren zugesagt, die Asylgesuche schnell zu bearbeiten und innert weniger Tage Entscheide zu fällen. Doch das ist nie geschehen.
Dazu sagt Parlamentarier Syrigos: Die neue Regierung setze nun alles daran, das Verfahren massiv zu beschleunigen und fordert im Gegenzug Zugeständnisse von Brüssel. Konkret solle die EU wieder damit anfangen, Asylsuchende unter den Mitgliedsländern zu verteilen. Allerdings deutet bisher nichts darauf hin, dass dies tatsächlich geschieht.
Wenn Du aus dem Haus gehst, stehen die Chancen Fifty-Fifty, dass Du unversehrt wieder zurückkommst.
Hassan ist ein 19-jähriger Asylsuchender aus Somalia. Er lebt zusammen mit seinem Vater seit etwa einem halben Jahr in einer kleinen Wohnung in Athen. Hassan beginnt zu erzählen: «In Somalia fehlen ganz grundlegende Dinge. Lebensmittel. Frieden. Wenn Du aus dem Haus gehst, stehen die Chancen Fifty-Fifty, dass Du unversehrt wieder zurückkommst.»
Dass die beiden flohen, hat aber noch einen anderen Grund. Der Vater leidet an Krebs. In Somalia konnte man ihm nicht helfen. Darum machten sie sich auf den Weg in die Türkei. Der Vater hoffte, man behandle ihn dort mit einer Chemotherapie. Doch die Ärzte in Istanbul verlangten dafür mehrere Zehntausend Dollar. Zu teuer für die somalischen Flüchtlinge.
Schliesslich investierten Vater und Sohn alles Geld, das sie noch hatten, in einen Schlepper. Der brachte sie in die Sichtnähe der griechischen Küste. Nach sieben Stunden auf einem Schlauchboot erreichten sie im letzten Sommer die Insel Leros.
Wegen des kranken Vaters kamen beide bald aufs Festland und erhielten eine Wohnung. Nun wartet der Vater seit Monaten darauf, dass man ihn in einem Spital untersucht. Er weiss, dass auch schwerkranke Griechinnen und Griechen oft monatelang auf eine Therapie warten müssen.
Wie dieser Somalier sind viele Flüchtlinge und Migranten physisch oder psychisch krank. Viele kommen schon krank aus ihrer Heimat, oder sie verletzen sich auf der Überfahrt oder in diesen Tagen bei den Auseinandersetzungen mit der griechischen Polizei an der Grenze zur Türkei.
Tausende chronisch kranke Asylbewerber drohen ohne Behandlung zu bleiben.
Melani Vassilopoulou hilft kranken Flüchtlingen. Sie arbeitet für die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF), die in Athen ein Team aus 50 Ärzten und Pflegenden aufgebaut hat. MSF betreut monatlich etwa 1000 Asylsuchende. Die Ärztin sagt: «Viele Leute, die wir behandeln, leben illegal hier. Es sind Leute, die dem Elend in den Lagern auf den griechischen Inseln entflohen sind – ohne Bewilligung. Oder Leute, die nie ein Asylgesuch gestellt haben.»
Die Lage registrierter Asylsuchender sei meistens besser. Bis im letzten Sommer, bis zum Regierungswechsel, hatten sie generell Anspruch auf medizinische Versorgung. Eine der ersten Massnahmen der neuen Regierung Mitsotakis war es dann aber, dies zu ändern. «Wer neu ankommt, kann nur noch in Notfällen zum Arzt. Tausende, vor allem chronisch kranke Asylbewerber, drohen ohne Behandlung zu bleiben», sagt Vassilopoulou.
Griechenland kann die Krise nicht allein lösen
Dass Griechenland seine Schulen und zumindest zeitweise auch sein in der Krise strapaziertes Gesundheitswesen für Asylsuchende öffnete, ist eine bedeutende Leistung. Und dank Geldern der EU wurde auch die finanzielle Unterstützung für Asylsuchende in den letzten Jahren stark ausgebaut.
Doch das reicht nicht. Das zeigt auch die neue, erst seit wenigen Tagen zu beobachtende Fluchtwelle. Griechenland ist zu klein und finanziell zu schwach. Es kann diese Krise nicht allein lösen. Gefordert ist die EU. Das 2015 beschlossene Weiterverteilungsprogramm lief 2017 aus, ohne dass die anfänglich versprochene Zahl von Flüchtlingen tatsächlich verteilt wurde. Die EU wird eine Lösung suchen und auch finden müssen. Bald.