Seit Tagen harren an der griechisch-türkischen Grenze Tausende Flüchtlinge und Migranten in der Kälte aus. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte vor einer Woche erklärt, die Grenze zur EU sei offen. Griechenland versucht seither, die flüchtenden Menschen mit Tränengas zurückzudrängen. Türkische Polizisten drängen sie derweil wieder zur Grenze hin.
Die Spitze der EU hat sich vor Ort ein Bild gemacht. Sie hat sich hinter Griechenland gestellt und erklärt, man werde die europäische Aussengrenze «mit allen nötigen Massnahmen» schützen. Für manche Beobachter ist das zu wenig: Sie sagen, die Migrationspolitik der EU sei gescheitert. «Klar ist, dass die EU sehr viel Zeit verloren hat», sagt der Migrationsexperte Jochen Oltmer.
Die europäischen Staaten hätten sich seit 2016 auf den sogenannten Flüchtlingspakt mit der Türkei verlassen. Und sie hätten sich darauf verlassen, «dass Griechenland das schon richten wird». Wie ein gemeinsames europäisches Asylsystem aussehe, diese Frage sei zu kurz gekommen, sagt der deutsche Historiker, der an der Universität Osnabrück zur Migrationsgeschichte forscht.
Die EU habe auch neue Verträge mit afrikanischen Staaten geschlossen und damit geglaubt, dass kaum mehr Menschen die europäische Grenze erreichen würden. Dabei seien binneneuropäische Fragen ausgeklammert worden, so Oltmer. Etwa, wie eine Reform des Dublin-Abkommens oder ein Verteilschlüssel für die Flüchtlinge und Migranten innerhalb der EU aussehe.
Die Genfer Konvention geopfert?
Oltmer kritisiert auch die falsche Begrifflichkeit, die dieser Tage häufig zu hören sei: die der illegalen Grenzübertritte. «Es gibt eine Reihe von internationalen Abkommen, allen voran die Genfer Flüchtlingskonvention, die besagt, dass Menschen ein Recht auf Anhörung ihres Asylantrags hätten.» Dieses Recht werde den Geflüchteten an Griechenlands Grenze aber verwehrt. Die EU könne und dürfe die Konvention nicht einfach aussetzen.
Griechenlands Ausserkraftsetzung des Asylrechts sei rechtlich hochproblematisch. Der Historiker kritisiert auch die Solidaritätsbekundungen aus Brüssel und europäischen Hauptstädten: So werde «das, was Griechenland tut, akzeptiert». Gleichzeitig werde zu wenig getan, um aus Verstrickungen wie dem Vertrag mit der Türkei – «der seit Jahren zu solchen Drohkulissen führt» – wieder herauszukommen.
Eine einfache Lösung gibt es nicht. Es stehe eine jahrelange Diskussion bevor, die in Verzug gerate, so Oltmer. Aber er hofft dennoch, dass die jetzige Situation ein Weckruf für die EU ist, «von der bisherigen Haltung der Selbstblockade wegzukommen und einen Beitrag dazu zu leisten, wieder stärker in Verhandlungen zu kommen» und damit bei der Diskussion um den Verteilschlüssel Fortschritte zu erzielen.