Nach dem Absturz eines Flugzeugs der Azerbaijan Airlines verdichtet sich der Verdacht, dass eine russische Luftabwehrrakete das Flugzeug getroffen haben könnte. Russland-Korrespondent Calum MacKenzie schätzt die aktuelle Informationslage ein.
Wie plausibel ist die Abschuss-Theorie?
Laut Aviatik-Experten deuten Spuren an den Trümmern des Flugzeugwracks in Kasachstan viel eher auf einen Abschuss hin als auf einen Unfall. Als gesichert gilt, dass im tschetschenisch-russischen Grosny, wo das Flugzeug ursprünglich hätte landen sollen, gerade ein ukrainischer Drohnenangriff abgewehrt wurde, als die Maschine aus Baku anflog. Damit erscheint die Abschuss-Theorie plausibel.
Könnte es Absicht gewesen sein?
Das scheint eher unwahrscheinlich. Russland hätte keinen Grund, ein Flugzeug aus Aserbaidschan abzuschiessen, denn Moskau und Baku pflegten in den letzten Jahren immer bessere Beziehungen. Deshalb sind die Angaben von Quellen aus der Regierung von Aserbaidschan, dass das Flugzeug von Russland abgeschossen worden sei, als wichtiges Indiz zu sehen, dass sich die Tragödie tatsächlich so abgespielt haben könnte. Denn ohne klare Hinweise auf ein solches Szenario hätte Aserbaidschan keinen Grund, Russland zu beschuldigen.
Wie sind die Beziehungen der beiden Staaten?
Seit dem Grossangriff Russlands auf die Ukraine kauft der Westen viel weniger Gas aus Russland. Dafür unterzeichnete etwa die EU neue Energieverträge mit Aserbaidschan, das auch grosse Gasreserven hat. Baku kann nun also viel mehr Gas nach Europa exportieren als früher, kann die Nachfrage aber nicht vollständig decken. Deshalb importiert Aserbaidschan seinerseits jetzt mehr Gas aus Russland. Moskau hat also einen neuen Abnehmer für sein Gas und Aserbaidschan kann mit der EU gute Geschäfte machen und trotzdem seinen Eigenbedarf decken.
Was bedeutet das für die russisch-aserbaidschanischen Beziehungen?
Eine Bestätigung der Abschuss-Theorie könnte das Verhältnis zwischen Aserbaidschan und Russland schädigen. Aserbaidschanische Politiker fordern bereits eine Entschuldigung von Moskau. Ausserdem versucht Aserbaidschan seit längerem, die staatliche Azerbaijan Airlines (Azal) zu einem grossen Player in der Region aufzubauen und den Flughafen in Baku zu einer Drehscheibe zwischen Europa und Asien zu machen. Aserbaidschans Machthaber Ilham Alijew soll dabei persönlich involviert sein. Dass nun ein Flugzeug von Azal abgestürzt ist, schadet dem Image der Airline. Deshalb ist es für Baku wichtig, dass Russland die Verantwortung für den Absturz übernimmt, wenn dem so ist. Bislang bestreitet Moskau allerdings alle Vorwürfe.
Wie gehen Moskau und Baku mit der diplomatischen Krise um?
Moskau wird unter Druck stehen, seine Rolle beim Abschuss offenzulegen, wenn sich die Hinweise auf einen solchen Abschuss verdichten. Gleichzeitig will Russland einen solchen Vorfall eigentlich nicht eingestehen, nachdem es zehn Jahre lang den Abschuss der malaysischen MH17 geleugnet hat. Ausserdem ist für Moskau der Gas-Export wichtig. Aserbaidschan seinerseits will Russland auch nicht allzu sehr brüskieren, weil Baku ja ebenfalls vom Gashandel profitiert. Die Vorwürfe aus der aserbaidschanischen Politik stehen aber im Raum – es gibt also bereits eine Art diplomatische Krise zwischen den beiden Ländern. Aber es ist eine Krise, die für beide Seiten Risiken hat und beide Regimes vorsichtig angehen werden.