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Föderalismus als Problem Amnesty: Demonstrationsrecht unter Druck – auch in der Schweiz

  • Die Menschen­rechts­organisation Amnesty International hat einen Bericht zur Lage des Rechts auf Protest in 21 Ländern Europas publiziert.
  • Dabei sieht Amnesty zunehmende Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in vielen europäischen Staaten.
  • Auch in der Schweiz gebe es Handlungsbedarf.
  • So kritisiert die NGO die Bewilligungspflicht für kleine Kundgebungen, den föderalistischen Flickenteppich an Regelungen sowie die Tendenz, Kosten auf die Veranstalter von Demonstrationen abzuwälzen.

Die Recherchen von Amnesty zeichneten das Bild des europaweiten Angriffs auf das Recht auf Protest, heisst es von der NGO. In vielen Ländern ist demnach Polizeigewalt ein Problem. Zudem würden friedliche Protestierende als «Terroristen» oder «ausländische Agenten» verunglimpft. Bereits elf Länder setzten Systeme zu Gesichtserkennung ein, was einer willkürlichen Massenüberwachung gleichkomme.

Menschen sitzen mit Protestschildern auf einer Brücke in der Stadt.
Legende: In Europa und auch in der Schweiz wird friedlicher Protest systematisch eingeschränkt und unterdrückt. KEYSTONE/Archiv/Ennio Leanza

Auch in der Schweiz gälten teils problematische gesetzliche Bestimmungen, hielt die Organisation fest. Der Bericht hebt insbesondere die Widersprüche zwischen dem Schweizer Recht und der Praxis und den völkerrechtlichen Verpflichtungen hervor. Diese übertragen den Staaten die Verantwortung, friedliche Versammlungen zu achten, zu schützen und zu erleichtern. Hindernisse für Demonstrationen müssten beseitigt und ungerechtfertigte Eingriffe in die Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung vermieden werden.

Einschätzung von Inlandredaktor Matthias Strasser

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Dass schweizweit ein «Flickenteppich» mit unterschiedlichen Regeln bestehe, möge für Demonstrationswillige zwar umständlich sein, sagt Inlandredaktor Matthias Strasser. Es beschneide aber die Versammlungsfreiheit nicht. Das gelte auch für den zweiten Kritikpunkt: dass auch kleinere Kundgebungen bewilligungspflichtig sind. «Wichtig ist vor allem, dass sie bewilligt werden. Und das ist normalerweise – wenn auch mit Auflagen – der Fall», so Strasser. Eine Ausnahme bildeten die nicht bewilligten Demonstrationen zum Nahost-Konflikt im letzten Herbst. Gleich mehrere Städte hätten diese ganz untersagt, «mit zum Teil fragwürdigen Begründungen».

Strasser fährt fort: «Zunder steckt aber vor allem in der dritten Kritik, die sich gegen eine recht neue Entwicklung richtet: das Verrechnen von Polizeikosten rund um Demonstrationen an die Veranstalter.» Mehrere Kantone hätten ihre Regeln verschärft. Bern habe letztes Jahr erstmals Kosten verrechnet. In Zürich hatte die Junge SVP sogar gefordert, dass die Kosten in jedem Fall verrechnet werden müssen. Erfolglos – und dennoch könne Demonstrieren nach einem Volksentscheid in der Limmatstadt künftig teuer werden. Auch andere Städte kennen solche Regeln.

«Amnesty befürchtet, Demonstrieren werde so zum finanziellen Risiko. Und damit zum Privileg für Gutbetuchte.» Laut Strasser hätte der Staat tatsächlich Alternativen. Nach Ausschreitungen könne er die Verantwortlichen im Nachhinein ermitteln und bestrafen. Und auch Schadenersatz verlangen.

«Müssen Organisatorinnen und Organisatoren von Demonstrationen hingegen von vornherein mit teils hohen Polizeikosten rechnen, ausgelöst durch Dritte, führt das dazu, dass auch friedliche Demonstrationen gar nicht erst stattfinden. Das ist tatsächlich eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit», schliesst Strasser. «Eine, die ein Staat wie die Schweiz nicht nötig hätte.»

Das in fast allen Kantonen geltende Bewilligungssystem beispielsweise, das für jede Demonstration eine vorherige Genehmigung verlangt, schränke die Ausübung des Rechts auf Protest ein und könne von der Teilnahme an einer Versammlung abschrecken. Das Versäumnis, eine Demonstration im Voraus anzumelden, wird teilweise dazu benutzt, eine Versammlung als «rechtswidrig» einzustufen, ihre Auflösung anzuordnen und strafrechtliche Sanktionen gegen Organisatoren und Teilnehmer zu verhängen.

Es gibt keine Regeln, die für die ganze Schweiz gelten. Jeder Kanton und jede Gemeinde hat eigene Regeln.
Autor: Alicia Giraudel Menschenrechtsexpertin Amnesty International Schweiz

Die Besonderheiten des föderalen Systems der Schweiz bringen für Personen, die demonstrieren möchten, zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Denn die kantonalen Unterschiede in der Gesetzgebung erfordern eine genaue Kenntnis des anwendbaren Bewilligungssystems oder der einzuhaltenden Bedingungen.

Mehrere Verfahren hängig

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Im August wird ein Gericht in Bern über den Fall einer Mitarbeiterin von Amnesty Schweiz entscheiden, die zusammen mit fünf anderen Aktivistinnen und Aktivisten eine Petition an die russische Botschaft übergeben hatte, ohne um eine Genehmigung gebeten zu haben.

In Freiburg stellte die Polizei den Organisatorinnen Organisatoren einer Demonstration die Kosten für die Regelung des Verkehrs in Rechnung. Die Klage liegt derzeit vor dem Freiburger Gericht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte muss ausserdem über die Verantwortung der Organisation des feministischen Streiks in Genf und die Forderung der Behörden, dass die Organisatorinnen und Organisatoren für einen Ordnungsdienst sorgen müssen, entscheiden.

«Es gibt keine Regeln, die für die ganze Schweiz gelten. Jeder Kanton und jede Gemeinde hat eigene Regeln», stellt Alicia Giraudel von Amnesty International Schweiz fest. Die Menschen­rechts­organisation arbeite derzeit an einem Bericht zu den besonderen Problematiken der kantonalen Gesetzgebungen. Dieser Bericht soll im Herbst veröffentlicht werden.

Anstatt friedliche Proteste einzuschränken und diejenigen zu bestrafen, die auf die Strasse gehen, müssten europäischen Staaten, darunter auch die Schweiz, ihr Vorgehen völlig neu überdenken, kommt der Bericht zum Schluss. Proteste sollten erleichtert und Demonstrantinnen und Demonstranten nicht zum Schweigen gebracht werden. Die repressiven Gesetze und Vorschriften müssen überarbeitet werden, damit sie mit den internationalen Menschen­rechts­ver­pflichtungen vereinbar sind.

Liste der untersuchte Länder

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Im Rahmen des Berichts wurden folgende Länder untersucht:

  • Belgien
  • Deutschland
  • Finnland
  • Frankreich
  • Griechenland
  • Irland
  • Italien
  • Luxemburg
  • Die Niederlande
  • Österreich
  • Polen
  • Portugal
  • Schweden
  • Die Schweiz
  • Serbien
  • Slowenien
  • Spanien
  • Tschechien
  • Ungarn
  • Die Türkei
  • Das Vereinigte Königreich. 

Das Projekt ist Teil der globalen Kampagne «Protect the Protest» von Amnesty International, die sich für das Recht auf Protest in der ganzen Welt einsetzt.

Audio
Archiv: Es steht schlecht um die Menschenrechte weltweit
aus SRF 4 News vom 24.04.2024. Bild: Keystone-SDA
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 8 Sekunden.

SRF 4 News, 09.07.2024, 07:00 Uhr ; 

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