Es ist ein warmer, betriebsamer Mittwochmorgen an der Bialikstrasse in Ramat Gan, einer Vorstadt von Tel Aviv. Neben Hebräisch wird viel Russisch gesprochen, die Schaufenster sind mit kyrillischer Schrift angeschrieben. In Israel ist das keine Seltenheit, schliesslich lebten hier schon vor dem Ukrainekrieg rund eine Million Russischsprachige.
Im russischen Lebensmittelladen an der Ecke sind sogar Schweinswürste zu kaufen, die alles andere als koscher sind, russische Popmusik schallt aus dem Radio. Die Verkäuferin hat jüngst viele neue Kundinnen und Kunden festgestellt.
«Jeden Tag tauchen hier neue Gesichter auf», sagt sie. «Teilweise kommen sie mit ihren Koffern direkt vom Flughafen hierher.» Das Bedürfnis sei gross nach den Lieblingsspeisen aus der Heimat.
Zehntausende Einwanderer
Dieses Bedürfnis hat auch Iwan. Er ist eines der vielen neuen Gesichter, der zehntausenden Russinnen und Russen, die seit der russischen Invasion der Ukraine nach Israel ausgewandert sind. Iwan wollte nur weg aus Russland, er wollte den Krieg nicht mit seinen Steuern unterstützen. «Dieses Geld wird letztlich in Bomben investiert, mit der in der Ukraine Menschen getötet werden.»
Als Zufluchtsort war Israel jedoch nicht Iwans erste Wahl: «Ich war schon einmal in Israel und es hat mir nicht gefallen. Ich mochte den Hummus und die Falafel nicht, mir fehlte das Schweinefleisch.»
Trotzdem verschlug es Iwan nach Tel Aviv, denn er hat jüdische Wurzeln: Er hat nach dem israelischen Rückkehrgesetz ein Recht auf die Staatsbürgerschaft. Immer weniger Länder nehmen russische Staatsangehörige auf, die vielen Ausgewanderten vom letzten Jahr reisten oft von Land zu Land, auf der Suche nach einem gültigen Visum. Über 70'000 Menschen sind 2022 nach Israel eingewandert, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Die allermeisten von ihnen stammen aus Russland.
«Keine starke jüdische Identität»
In einem alten Schulgebäude im Norden der Stadt wohnen kürzlich eingereiste Russinnen und Russen, die Unterkunft stellt ein Integrationsprogramm zur Verfügung. Auf dem Schulhof steht eine von ihnen, Aleksandra. Sie kommt gerade vom Hebräischkurs.
Aleksandra hat Russland im September verlassen und ist über Finnland nach Israel gereist. «Es war schon lange klar, dass es mit Russland steil bergab geht», sagt sie. Über eine Ausreise hatte sie bereits vor dem Krieg nachgedacht, doch nun sah sie sich dazu gezwungen. «Ich wollte der Ukraine irgendwie helfen, etwa mit Spendensammlungen. Aber in Russland hätte ich mich so strafbar gemacht.»
Ihre Mitbewohner in der umfunktionierten Schule seien wie die meisten Menschen, die Russland nun verliessen: jung, gebildet, progressiv. Und wie sie selbst hätten sie vor dem Krieg wenig Bezug zu Israel oder zum jüdischen Glauben gehabt, sagt sie.
In Russland hatte ich keine starke jüdische Identität.
«In Russland hatte ich keine starke jüdische Identität», so Aleksandra, «in der Familie sprachen wir selten darüber. In der Sowjetunion musste mein Vater seine jüdischen Wurzeln noch verstecken. Jetzt wollten wir nach Israel und es war genau umgekehrt – wir mussten in den Archiven nach Belegen suchen, dass wir jüdisch sind.»
Abweisende Einheimische
In Israel sind die jungen Menschen aus Russland mit kniffligen Identitätsfragen konfrontiert. Aleksandra und Iwan lernen eine weitgehend fremde Kultur kennen, die gleichwohl ihre eigene ist. Anders ergeht es Lew, einem Tontechniker aus Sankt Petersburg. In Russland hatte er sich in der jüdischen Gemeinschaft engagiert. Dennoch kommt er sich in Israel teilweise als Fremdkörper vor.
«Zuhause besuchte ich die Synagoge und kannte den Rabbiner, zumindest ein Teil von mir war immer jüdisch», sagt Lew. «Aber hier bin ich ein Goi, ein Nichtjude, weil offiziell nur mein Grossvater jüdisch war. Hier bin ich einfach Russe.»
Diese Haltung gegenüber nichtreligiösen jüdischen Einwanderern zeigt sich auch in der israelischen Politik. Einige Israelis forderten ein strengeres Rückkehrgesetz, sagt Yigal Palmor von der Jewish Agency, eine Organisation, die Jüdinnen und Juden bei der Auswanderung nach Israel unterstützt.
Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der gegenüber den Neuankömmlingen abweisend ist.
«Manche Leute sagen, das seien keine richtigen Juden, und was sie denn mit uns gemeinsam hätten?», so Palmor. «Das hören wir oft, es gibt einen Teil der Bevölkerung, der gegenüber den Neuankömmlingen abweisend ist.»
Langsame Integration
Im weltgewandten Tel Aviv sind die jungen Russinnen und Russen allerdings gut aufgehoben. Langsam tasten sie sich an die Kultur heran.
«Ich gehe gerne am Schabbat in die Synagoge», sagt Aleksandra. «Ich bin nicht religiös, aber ich mag die Lieder, die man gemeinsam singt, und die Feiertage, wenn das religiöse auf das laizistische trifft.»
Auch Iwan freundet sich mit dem Leben in Israel an. Das Schweinefleisch vermisst er nicht mehr so sehr wie anfangs. Sogar den Hummus mag er inzwischen, gelegentlich kauft er ihn selbst, um zu Hause damit zu kochen.
Nicht alle der jüngst Eingewanderten haben sich definitiv entschieden, auf Dauer in Israel zu bleiben. Viele warten auf die Sicherheit und Bewegungsfreiheit, die der israelische Pass mit sich bringt, bevor sie ihre weitere Zukunft planen.
«Ich war nie der grösste Zionist», sagt Tontechniker Lew. «Ich finde, man kann seine jüdische Identität auch ausserhalb von Israel bewahren und pflegen.» Er fühle sich aber wohl in Tel Aviv. «Vielleicht finde ich einen guten Job, vielleicht heirate ich hier. Ich kann mir auf jeden Fall vorstellen, dazubleiben.»