Zum Inhalt springen
Audio
Jüdische Russinnen und Russen zieht es vermehrt nach Israel
Aus Rendez-vous vom 22.02.2023. Bild: Reuters/ AMIR COHEN
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 58 Sekunden.

Folge des Ukrainekriegs Jüdische Russinnen und Russen zieht es vermehrt nach Israel

Tausende jüdische Russinnen und Russen wandern nach Israel aus. Mit dem Ukrainekrieg sehen sie in der Heimat keine Zukunft mehr. Aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln haben sie in Israel ein Recht auf Einbürgerung. Viele bauen nun ein neues Leben auf in einem Land, das sie vorher kaum kannten.

Es ist ein warmer, betriebsamer Mittwochmorgen an der Bialikstrasse in Ramat Gan, einer Vorstadt von Tel Aviv. Neben Hebräisch wird viel Russisch gesprochen, die Schaufenster sind mit kyrillischer Schrift angeschrieben. In Israel ist das keine Seltenheit, schliesslich lebten hier schon vor dem Ukrainekrieg rund eine Million Russischsprachige.

Schilder in russisch und Hebräisch.
Legende: In Tel Aviv sind zahlreiche Läden in Russisch und Hebräisch angeschrieben. SRF

Im russischen Lebensmittelladen an der Ecke sind sogar Schweinswürste zu kaufen, die alles andere als koscher sind, russische Popmusik schallt aus dem Radio. Die Verkäuferin hat jüngst viele neue Kundinnen und Kunden festgestellt.

«Jeden Tag tauchen hier neue Gesichter auf», sagt sie. «Teilweise kommen sie mit ihren Koffern direkt vom Flughafen hierher.» Das Bedürfnis sei gross nach den Lieblingsspeisen aus der Heimat.

Eingang zu russischem Lebensmittelladen.
Legende: Gläubigen Juden ist der Verzehr von Schweinefleisch verboten, trotzdem kann man in einigen russischen Lebensmittelläden Schweinswürste kaufen. SRF

Zehntausende Einwanderer

Dieses Bedürfnis hat auch Iwan. Er ist eines der vielen neuen Gesichter, der zehntausenden Russinnen und Russen, die seit der russischen Invasion der Ukraine nach Israel ausgewandert sind. Iwan wollte nur weg aus Russland, er wollte den Krieg nicht mit seinen Steuern unterstützen. «Dieses Geld wird letztlich in Bomben investiert, mit der in der Ukraine Menschen getötet werden.»

Als Zufluchtsort war Israel jedoch nicht Iwans erste Wahl: «Ich war schon einmal in Israel und es hat mir nicht gefallen. Ich mochte den Hummus und die Falafel nicht, mir fehlte das Schweinefleisch.»

Trotzdem verschlug es Iwan nach Tel Aviv, denn er hat jüdische Wurzeln: Er hat nach dem israelischen Rückkehrgesetz ein Recht auf die Staatsbürgerschaft. Immer weniger Länder nehmen russische Staatsangehörige auf, die vielen Ausgewanderten vom letzten Jahr reisten oft von Land zu Land, auf der Suche nach einem gültigen Visum. Über 70'000 Menschen sind 2022 nach Israel eingewandert, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Die allermeisten von ihnen stammen aus Russland.

 «Keine starke jüdische Identität»

In einem alten Schulgebäude im Norden der Stadt wohnen kürzlich eingereiste Russinnen und Russen, die Unterkunft stellt ein Integrationsprogramm zur Verfügung. Auf dem Schulhof steht eine von ihnen, Aleksandra. Sie kommt gerade vom Hebräischkurs.

Frau sitzt draussen auf einem Tisch.
Legende: Vor dem Krieg hatte Aleksandra nach eigenen Angaben wenig Bezug zu Israel und dem jüdischen Glauben. SRF

Aleksandra hat Russland im September verlassen und ist über Finnland nach Israel gereist. «Es war schon lange klar, dass es mit Russland steil bergab geht», sagt sie. Über eine Ausreise hatte sie bereits vor dem Krieg nachgedacht, doch nun sah sie sich dazu gezwungen. «Ich wollte der Ukraine irgendwie helfen, etwa mit Spendensammlungen. Aber in Russland hätte ich mich so strafbar gemacht.»

Ihre Mitbewohner in der umfunktionierten Schule seien wie die meisten Menschen, die Russland nun verliessen: jung, gebildet, progressiv. Und wie sie selbst hätten sie vor dem Krieg wenig Bezug zu Israel oder zum jüdischen Glauben gehabt, sagt sie.

In Russland hatte ich keine starke jüdische Identität.
Autor: Aleksandra Russische Immigrantin

«In Russland hatte ich keine starke jüdische Identität», so Aleksandra, «in der Familie sprachen wir selten darüber. In der Sowjetunion musste mein Vater seine jüdischen Wurzeln noch verstecken. Jetzt wollten wir nach Israel und es war genau umgekehrt – wir mussten in den Archiven nach Belegen suchen, dass wir jüdisch sind.»

Abweisende Einheimische

In Israel sind die jungen Menschen aus Russland mit kniffligen Identitätsfragen konfrontiert. Aleksandra und Iwan lernen eine weitgehend fremde Kultur kennen, die gleichwohl ihre eigene ist. Anders ergeht es Lew, einem Tontechniker aus Sankt Petersburg. In Russland hatte er sich in der jüdischen Gemeinschaft engagiert. Dennoch kommt er sich in Israel teilweise als Fremdkörper vor.

«Zuhause besuchte ich die Synagoge und kannte den Rabbiner, zumindest ein Teil von mir war immer jüdisch», sagt Lew. «Aber hier bin ich ein Goi, ein Nichtjude, weil offiziell nur mein Grossvater jüdisch war. Hier bin ich einfach Russe.»

Mann mit Kappe an Tisch.
Legende: Lew, der junge Tontechniker aus St. Petersburg, war bereits vor seiner Auswanderung mit der jüdischen Kultur vertraut. Dennoch fühlt er sich in Israel ein bisschen als Fremdkörper. SRF

Diese Haltung gegenüber nichtreligiösen jüdischen Einwanderern zeigt sich auch in der israelischen Politik. Einige Israelis forderten ein strengeres Rückkehrgesetz, sagt Yigal Palmor von der Jewish Agency, eine Organisation, die Jüdinnen und Juden bei der Auswanderung nach Israel unterstützt.

Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der gegenüber den Neuankömmlingen abweisend ist.
Autor: Yigal Palmor Jewish Agency

«Manche Leute sagen, das seien keine richtigen Juden, und was sie denn mit uns gemeinsam hätten?», so Palmor. «Das hören wir oft, es gibt einen Teil der Bevölkerung, der gegenüber den Neuankömmlingen abweisend ist.»

Langsame Integration

Im weltgewandten Tel Aviv sind die jungen Russinnen und Russen allerdings gut aufgehoben. Langsam tasten sie sich an die Kultur heran.

«Ich gehe gerne am Schabbat in die Synagoge», sagt Aleksandra. «Ich bin nicht religiös, aber ich mag die Lieder, die man gemeinsam singt, und die Feiertage, wenn das religiöse auf das laizistische trifft.»

Auch Iwan freundet sich mit dem Leben in Israel an. Das Schweinefleisch vermisst er nicht mehr so sehr wie anfangs. Sogar den Hummus mag er inzwischen, gelegentlich kauft er ihn selbst, um zu Hause damit zu kochen.

Mann posiert in einem Park.
Legende: Israel war für Iwan als Zufluchtsort nicht die erste Wahl. Mittlerweile hat er sich jedoch gut eingelebt. SRF

Nicht alle der jüngst Eingewanderten haben sich definitiv entschieden, auf Dauer in Israel zu bleiben. Viele warten auf die Sicherheit und Bewegungsfreiheit, die der israelische Pass mit sich bringt, bevor sie ihre weitere Zukunft planen.

«Ich war nie der grösste Zionist», sagt Tontechniker Lew. «Ich finde, man kann seine jüdische Identität auch ausserhalb von Israel bewahren und pflegen.» Er fühle sich aber wohl in Tel Aviv. «Vielleicht finde ich einen guten Job, vielleicht heirate ich hier. Ich kann mir auf jeden Fall vorstellen, dazubleiben.»

Rendez-vous, 22.02.2023, 13:00 Uhr

Jederzeit top informiert!
Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden.
Schliessen

Jederzeit top informiert!

Erhalten Sie alle News-Highlights direkt per Browser-Push und bleiben Sie immer auf dem Laufenden. Mehr

Push-Benachrichtigungen sind kurze Hinweise auf Ihrem Bildschirm mit den wichtigsten Nachrichten - unabhängig davon, ob srf.ch gerade geöffnet ist oder nicht. Klicken Sie auf einen der Hinweise, so gelangen Sie zum entsprechenden Artikel. Sie können diese Mitteilungen jederzeit wieder deaktivieren. Weniger

Sie haben diesen Hinweis zur Aktivierung von Browser-Push-Mitteilungen bereits mehrfach ausgeblendet. Wollen Sie diesen Hinweis permanent ausblenden oder in einigen Wochen nochmals daran erinnert werden?

Meistgelesene Artikel