In der Altstadt von Basra schliesst der Maler Hamid Saeed die Türe zu einem der traditionellen Holzhäuser am Kanal auf. Das Haus ist über 100 Jahre alt, und wie durch ein Wunder hat es die Kriege der letzten vier Jahrzehnte einigermassen unbeschadet überstanden. Heute beherbergt es die Vereinigung der bildenden Künste von Basra.
Hamid Saeed macht das Licht an. Wir stehen mitten in der Ausstellung «Leisa Sifr», übersetzt etwa «nicht nichts». Solange es noch Kunst gebe in Basra, sei nicht alles verloren, erklärt der 45-jährige Maler aus Basra den Ausstellungstitel. Saeeds ganzes Leben war von Kriegen geprägt: Seine Stadt, an der Grenze zu Iran und Kuweit, wurde seit seiner Kindheit mehrmals zerstört.
«Ich war 5 Jahre alt, als 1980 der Krieg zwischen dem Irak und Iran begann», beginnt er. «Als ich in der Mittelschule war, überfiel Saddam Hussein Kuweit. Die Amerikaner kamen, und dann lebten wir 10 Jahre lang mit ihren Sanktionen – von 1990 bis 2000.»
«Wer das Wirtschafts-Embargo nicht erlebt hat, weiss nicht, wie das ist», sagt Hamid Saeed. «Wir hatten an der Kunsthochschule keine Bleistifte, keine Ölfarben, keine Leinwände, kein Papier – wir mussten auf alten Papiertüten und Kartonschachteln zeichnen.»
Als Maler stellt er seine Heimatstadt in abstrakten Bildern dar: Einige sind ausgestellt im schönen alten Haus der bildenden Künste. Als Kunstlehrer versucht Saeed, Kindern und Jugendlichen zu erklären, was für eine Stadt Basra einmal war - und wie sie in Zukunft wieder sein könnte. Denn: Eine Zukunft sehen viele Jugendliche in Basra schon lange nicht mehr. Noch bevor es im Oktober 2019 im ganzen Irak zu Massenprotesten gegen die Regierung kam, begehrte die mehrheitlich schiitische Jugend von Basra gegen die schiitische Machtelite auf.
«Wir haben nichts von Basra!»
Kritik ist im Irak gefährlich: Allein in Basra wurden in den letzten Jahren über 50 Demonstranten und Aktivistinnen umgebracht – von wem, ist unklar. Am 1. Oktober dieses Jahres – wenige Tage vor den Parlamentswahlen – trauten sich abends denn auch nur wenige auf die Strasse, um den Rücktritt der korrupten Politiker und eine Untersuchung der vielen Morde zu fordern.
Basra ist eine wichtige Ölstadt und wir haben nichts davon!
Unter den rund zwei Dutzend jungen Männern sind nur drei Frauen. Eine von ihnen ist die 26-jährige Alaa. Angst hat sie nicht: «Wir müssen sowieso einmal sterben. So steht es geschrieben.» Und fügt hinzu: «Basra ist eine wichtige Ölstadt und wir haben nichts davon! Keine staatlichen Dienstleistungen, alles Vetternwirtschaft!» Der 25-jährige Mohammed stimmt ihr zu: «Wir schwimmen im Öl, aber unser Wasser ist so versalzen, dass wir es nicht trinken können», sagt er.
Die Verschmutzung des Flusses Shatt al Arab, an dem Basra liegt, war schon vor Jahren Auslöser von Protesten.«Zum Trinken, Kochen und Kleiderwaschen müssen wir Wasser kaufen!», empört sich Mohammed. Dank ihrer Öleinnahmen hätte die Stadt genug Geld, um besser für die Bevölkerung zu sorgen, ist er überzeugt.
«Heute ist Basra eine Ruine»
2003 begann die US-geführte Irak-Invasion in ihrer Stadt. Diese hatte verheerende Folgen für auf die zweitgrösste Stadt des Irak. Basra, einst Venedig des Nahen Ostens genannt, war schon damals schwer angeschlagen – und längst nicht mehr die Stadt seiner Kindheit, wie der 69-jährige Talib Abdul Aziz sagt, ein berühmter Dichter aus Basra.
«Als Kind lebte ich hier im Paradies. Die Dattel-Palmenwälder entlang der Ufer des Shatt al-Arab waren so dicht, dass die Sonne gar nicht durchdringen konnte», sagt Talib Abdul Aziz. Das war so bis zum Beginn des Krieges mit Iran 1980, als der Dichter als Soldat in der Grenzstadt zum Iran kämpfen musste.
«Damals begann die Zerstörung. Nach acht Jahren Krieg waren 60 Prozent der Dattelpalmen zerstört.» Nach dem Krieg hoffte die Bevölkerung von Basra auf den Wiederaufbau. Vergeblich. «Niemand räumte den Schutt und die Panzerwracks aus dem Fluss. Aus der einstigen Gemüse- und Früchtekammer der Nation wurde eine Ölstadt: ein weiteres Desaster», sagt der Schriftsteller.
Überall ist Öl
Der Flug von Iraks Hauptstadt Bagdad nach Basra dauert eine Stunde. Beim Landeanflug sind die vielen Ölraffinerien von weitem sichtbar: Gasfackeln. Schwarzer Rauch in der kargen Wüstenlandschaft. Die Luft riecht nach Öl. Hamza Al-Jawahiri kennt das Ölgeschäft in Basra wie kaum ein anderer. Ab den frühen 1970er-Jahren arbeitete er selbst auf diesen Ölfeldern und ist heute der wohl gefragteste Ölexperte im Irak.
«Egal, wo du bohrst, hier findest du Öl. 70 Prozent der irakischen Ölreserven befinden sich in der Provinz Basra», sagt Al-Jawahiri. Laut neuesten Berechnungsmethoden befänden sich bis zu 300 Millionen Barrel im Boden. Damit verfüge der Irak über mehr Erdöl als Saudi-Arabien: Basra wäre eigentlich die reichste irakische Provinz. Ihr Öl sei aber zugleich ihre Tragödie, sagt Ölexperte Hamza Al-Jawahiri.
«Gierig plünderten Saddam Husseins Regime und andere Staaten diesen Rohstoff , ohne Rücksicht auf Basra. Die Stadt wurde mehrfach zerstört, aber: Die US-Invasion 2003 gab ihr den Rest», sagt Al-Jawahiri. Der Wiederaufbau kam nur langsam voran, und die Infrastruktur – vor allem Strom und Wasser – ist noch immer ungenügend.
Daran schuld seien vor allem die Korruption und die destruktive Einmischung anderer Staaten, sagt Ölexperte Hamza Al Jawahiri. Kuweit, Saudi-Arabien, Jordanien und die Türkei: Alle wollten Rohstoffe des Irak und ihre Produkte im Irak und seiner Bevölkerung von 41 Millionen verkaufen.
Investitionsprojekte im Bereich Ölförderung, die er in den letzten 16 Jahren habe aufgleisen wollen, seien in letzter Minute abgeblasen worden. Er habe beobachtet, dass der wirtschaftliche Wiederaufbau im Irak, und besonders in Basra, systematisch verhindert worden sei. Dafür müsse der Irak jetzt fast alles importieren, sogar Ölprodukte, sagt Hamza Al-Jawahiri.
Geld für den Wiederaufbau nie erhalten
Im Irak sei viel Geld versickert, das für den Wiederaufbau bestimmt war. Das sagt der irakische Richter und Politiker Wael Abdul Latif. Nach der US-Invasion des Irak war er der erste Gouverneur von Basra und ein Mitglied der provisorischen irakischen Regierung unter US-Kontrolle. Die USA sprachen Milliarden für Wiederaufbau-Projekte im Irak. Das Geld dafür holten sie jedoch aus den irakischen Öleinnahmen .
«Ein Teil des Geldes ging direkt an Bechtel: An einen amerikanischen Baukonzern, der mit dem damaligen US-Vizepräsidenten Dick Cheney verbandelt war. Mit den 18 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau hätten die Provinzen Grosses machen können – das Geld kam jedoch nicht bei ihnen an», sagt Latif.
Der Iran – Hauptkonflikt und Tabuthema zugleich
Der ehemalige Gouverneur von Basra beobachtete, wie die Korruption in der Politik in den Jahren nach der US-Invasion immer mehr zunahm – besonders nachdem die USA 2010 den Abzug ihrer Kampftruppen ankündigten.
Auswärtige Politiker kauften in den irakischen Ministerien hohe Ämter und vergaben Verwaltungsposten an Leute, die sie kannten.
Es gab ein Machtvakuum, das vor allem die regionale islamische Grossmacht Iran füllte: wirtschaftlich und religiös-ideologisch. Beim Namen nennt der ehemalige Gouverneur Basras Iran allerdings nicht. «Auswärtige Politiker kauften in den irakischen Ministerien hohe Ämter und vergaben Verwaltungsposten an Leute, die sie kannten», sagt Wael Latif.
Die Strasse vom Flughafen ins Zentrum von Basra ist gesäumt von Bildern schiitischer Märtyrer: Die grössten Plakate zeigen Qassem Soleimani, den iranischen General, der im Januar 2020 von einer amerikanischen Drohne in Bagdad getötet wurde.
Der Einfluss des ehemaligen Kriegsgegners Iran ist in Basra offensichtlich. Und sie spaltet die schiitische Bevölkerungsmehrheit: Auf der einen Seite Anhänger des islamischen Gottesstaates, auf der anderen Seite Irakerinnen und Iraker, die keinen Gottesstaat nach iranischem Vorbild wollen und auch keine Einmischung von anderen Staaten. Heute ist diese Spaltung ein Hauptkonflikt im Irak. Offen darüber zu reden wagt kaum jemand.
Viele Menschen in der Stadt wurden getötet: Mitglieder der nicht-religiösen Baath-Partei starben ebenso wie Sunniten, Christen, und Schiiten. Dieser Terror verbreitete gegenseitiges Misstrauen und Angst
Diese Angst habe Basra verändert, sagt der Schriftsteller Talib Abdul Aziz. «Die religiösen islamischen Parteien waren wie der Wind, der die Glut zu einem Brand anfacht», sagt er. «Viele Menschen in der Stadt wurden getötet: Mitglieder der nicht-religiösen Baath-Partei starben ebenso wie Sunniten, Christen, und Schiiten. Dieser Terror verbreitete gegenseitiges Misstrauen und Angst», sagt der Schriftsteller Talib Abdul Aziz.
Angriffe auf Basras Kunst
Der Musiker Saad al-Yabes sitzt in einer langen weissen Robe und der traditionellen Kopfbedeckung, der Keffiyeh, auf der Dachterrasse im 18. Stock des Basra Tourist Hotels. Von hier aus kann man die iranische Grenze sehen, rund acht Kilometer vom Zentrum Basras entfernt.
Er zeigt auf die Strassen rund um das Hotel. «Vor 2003 hatten alle Hotels einen Nachtclub. Wir hatten über 65 Discos und Clubs, 30 alleine an einer einzigen Strasse», sagt Saad al Yabes. «Alle grossen arabischen Sängerinnen und Sänger traten in Basra auf. Basras Nachtleben lockte Kundschaft aus den Golfstaaten an. Aber Künstler bekamen Angst – und plötzlich verschwanden die Frauen aus dem Nachtleben.»
Warum die Angriffe auf die Kunst? Das wollten wir von den Behörden wissen. Aber diese sagten: Die Angreifer seien Kriminelle – sie hätten nichts damit zu tun.»
Alkohol wurde in Basra verboten. Künstler wurden niedergeschlagen, es gab Anschläge auf Konzertlokale. «Warum die Angriffe auf die Kunst? Das wollten wir von den Behörden wissen. Aber diese sagten, die Angreifer seien Kriminelle – sie hätten nichts damit zu tun.» Gleichzeitig gebe es kaum mehr Konzertlokale oder staatliche Subventionen für Musikerinnen und Musiker. Viele von ihnen hätten den Irak verlassen. Saad al-Yabes ist geblieben.
«Ich liebe Basra. Freunde im Ausland sagen mir immer wieder: Komm, wandere aus, bring deine Familie! Aber ich habe schon nach zehn Tagen Heimweh. Mein Blut ist hier», sagt der Musiker und Vater von drei Töchtern und einem Sohn.
Basras Lebensader
Die Lebensader Basras ist der Shatt al-Arab: Dieser Fluss beginnt, wo der Tigris und der Euphrat zusammenfliessen und erstreckt sich über 200 Kilometer. Der Maler Hamid Saeed hat die Reporterin zu Naser Semare, einem befreundeten Maler gebracht, der etwas ausserhalb Basras am Ufer des Flusses lebt.
Dieser fährt uns mit seinem Boot zur einzigen Dattelplantage weit und breit. Früher kamen drei Viertel aller Datteln der Welt aus dem Irak, vor allem Basra. Heute sind es noch fünf Prozent. Am Ufer sind kaum noch Bäume zu sehen.
Kurz wird es still auf dem Boot: Aus dem Schilf am Ufer erscheint langsam eine kleine Herde Wasserbüffel und schwimmt über den Fluss. Dann geht die Fahrt weiter und endet bei einem fast schon majestätischen Gebäude. Eine Steintreppe führt zum Haus des Dattelbauern Shakir Salman Kabun.
Der Bauer führt uns in den grossen Empfangssaal der Dattelfirma. Er lässt Tee servieren, erzählt, dass schon sein Grossvater am Ufer des Shatt al-Arab Bauer war, zeigt die Dattelplantage, die ökologisch betrieben wird. «Wir haben viel Zerstörung erlebt, vor allem nach 2003, aber, so Gott will, sind die Kriege jetzt vorbei», sagt Kabun.
Basras Überlebensstrategie: das Schöne sehen
Wieder auf dem Boot beginnt der Künstler Naser Semare von der Flusslandschaft zu schwärmen, obwohl sie nach all den Kriegen und der Verschmutzung nur noch ein Schatten ihrer früheren Pracht ist: «Wir in Basra sehen nicht die Wunden des Shatt al-Arab, sondern die Schönheit der Natur.»
«Unsere Vorfahren, unsere 5000-jährige Zivilisationsgeschichte sind in diesen Ufern begraben,» sagt er - und erzählt von der hilfsbereiten, einfachen Bevölkerung, die am Fluss wohne.
Die Fähigkeit der Menschen, nach all der Zerstörung Basras noch das Schöne zu sehen, machte auch der lokale Schriftsteller Muhammad Khudayyir in seinem berühmten Roman «Basrayatha» zum Thema: Die Bevölkerung Basras sehe ihre Stadt immer auch durch den Filter schöner Erinnerungen – eine Art Überlebensstrategie.