Heute findet in Katar die Auslosung für die Gruppenphase der Fussball-WM statt. Damit beginnt die grosse Schau um das wohl umstrittenste Fussballturnier der jüngeren Geschichte. SRF-Auslandredaktor Philipp Scholkmann mit Eindrücken aus dem Wüstenstaat, dem Sklaverei-ähnliche Zustände auf den Baustellen vorgeworfen wurden.
SRF News: Ist acht Monate vor dem WM-Start in Katar eine Vorfreude zu spüren?
Philipp Scholkmann: Das kommt darauf an, wen man fragt. 85 Prozent der in Katar lebenden Menschen kommen aus dem Ausland und sind zum Arbeiten da. Ägypter, die ich traf, zählen schon jetzt die Tage, bis es losgeht. Sie stammen aus dem arabischen Land mit der grössten Fussballtradition. Menschen aus Indien und Pakistan sind da vielleicht weniger leidenschaftlich, besonders wenn sie von den schwierigen Arbeitsbedingungen betroffen sind oder waren. Bei den Einheimischen herrschen Stolz und Patriotismus vor. Man will jetzt zeigen, dass das superreiche, aber winzige Land auf der Höhe der internationalen Erwartungen ist.
Die Einheimischen wollen jetzt zeigen, dass das superreiche, junge und winzige Land auf der Höhe der internationalen Erwartungen ist.
Oft waren die Stadien an WM-Austragungsorten bis kurz vor dem Start nicht fertig. Wie sieht es in Katar aus?
Katar ist schon sehr bereit. Es kann sich ein solches Megaprojekt leisten. Seit dem Zuschlag vor zwölf Jahren wurden Abermilliarden investiert. Manche der Stadien sind eigentliche Kunstwerke. Etwa das einem gigantischen Beduinenzelt ähnelnde Al-Bayt. Oder das von Lusail, wo das Endspiel ausgetragen wird. Da werden noch ein paar Kabel verlegt, aber sonst ist es fertig.
Auch die eigens im Hinblick auf die WM gebaute Metro ist bereits im Vollbetrieb. Rund um die Stadien sind teils neue Stadtquartiere mit Glaspalästen, künstlichen Inseln und Strandpromenaden entstanden. Ein gewaltiger Bauboom im letzten Jahrzehnt.
Scharf kritisiert wurden die unmenschlichen Arbeitsbedingungen auf den Baustellen und 6500 tote Arbeiter. Wie kam das in Katar an?
Katar sah sich zu Unrecht am Pranger und kritisierte die Zahlen. Was stimmt: Die genannten Todesfälle betrafen ein ganzes Jahrzehnt und waren längst nicht alles Arbeitsunfälle im Zusammenhang mit der WM. Unbestritten aber ist, dass das auch in Katar angewendete Kafala-System die Wanderarbeiter auf Gedeih und Verderb den Arbeitgebern auslieferte und die Ausbeutung begünstigte. Dazu kommt, dass Arbeiten im Freien in der Bruthitze des Sommers in dieser Weltgegend lebensgefährlich ist. Katar hat reagiert, die Gesetze verändert und das System nun weitgehend abgeschafft – unter internationalem Druck.
Hat sich die Situation dadurch verbessert?
Jein. Laut den Menschenrechtsorganisationen machte Katar zwar einen bedeutenden Schritt auf dem Papier, doch bei der Umsetzung hapere es. Die neuen Gesetze würden nicht von allen Arbeitgebern seriös angewendet.
Katar wird in der Energiekrise von Westeuropa hofiert wegen seiner immensen Gasvorräte. Wie reagiert das Land auf den geopolitischen Wechsel durch den Ukraine-Krieg?
Mit grosser Genugtuung über die zusätzliche Nachfrage aus Europa. Katar hat gemeinsam mit Iran das grösste Gasfeld der Welt und ist weltweit der grösste Exporteur von Flüssig-Erdgas. Die Europäer als Bittsteller werden ihre Kritik wohl weiter zurückfahren. Das betrifft auch andere Vorwürfe, etwa jenen, dass Katar im letzten Jahrzehnt islamistische Organisationen bis an die Ränder von al-Kaida unterstützt hat. Katar selbst findet auch diese Kritik überzogen, möchte lieber als neutraler Gesprächspartner mit Kontakten in alle Richtungen gesehen werden.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.