Die Nord-Stream 1-Pipeline ist momentan ausser Betrieb. Es finden Wartungsarbeiten statt. Eigentlich reine Routine. Doch Nord Stream 1 ist eine der wichtigsten Pipelines, die Erdgas von Russland nach Europa bringt. Darum geht nun die Angst um, dass Russland die Gaslieferungen danach ganz einstellen könnte. Das wäre ein Problem, sagt Professor Andreas Goldthau.
SRF News: Wie weit ist Europa mit dem Ersatz von russischem Gas?
Andreas Goldthau: Prinzipiell muss man festhalten: Wir haben Sommer, wir müssen nicht heizen. Insofern geht es gegenwärtig schlicht um die Frage: Bekommen wir die Speicher voll für den Winter? Schaffen wir die 80 Prozent im Oktober, 90 Prozent im November? Dafür hat man Gas kontraktiert aus Quellen, die nicht in Russland liegen, also zum Beispiel aus Norwegen, Katar oder den USA. Und man versucht, Einsparungen zu erreichen. Aber von russischem Gas ganz wegzukommen ist eine langfristige Aufgabe, und da muss noch sehr viel mehr passieren.
Bei der gegenwärtigen Einspeicherung bekommen wir die Speicher wahrscheinlich voll.
Reichen die Massnahmen der EU gegen die Energieknappheit?
Bei der gegenwärtigen Einspeicherung bekommen wir die Speicher wahrscheinlich voll. Zudem werden zum Beispiel in Deutschland ein bis zwei schwimmende Flüssiggas Terminals angeschafft. Das heisst, wir haben bereits einige Massnahmen, die auch diesen Winter schon greifen werden. Aber viel wird davon abhängen, ob Nord Stream 1 zurückkommt oder nicht. Wenn nicht und wenn die russischen Gaslieferungen insgesamt eingestellt werden, kann es zum Winter hin eng werden.
Es gibt durchaus Gründe, vorsichtig zu sein und zu versuchen, so weit wie möglich zu diversifizieren.
Wenn die Messlatte bei den Gasbeständen in den Speichern erreicht wird, warum sind die Politikerinnen und Politiker dennoch nervös?
Die Speicher werden uns natürlich nicht durch den gesamten Winter bringen, sondern sie werden nur die Spitzen abfedern. Das heisst, man braucht mehr als nur diese Speicher, um Europa mit Erdgas zu versorgen. Zudem bestimmt die Wetterlage sehr stark die Nachfrage. Je kälter der Winter, desto schwieriger wird es. Und je weniger auf Angebotsseite nach Europa kommt, desto schneller sind die Speicher leer. Insofern gibt es durchaus Gründe, vorsichtig zu sein und zu versuchen, so weit wie möglich zu diversifizieren und das Angebot auszuweiten.
Das sind Massnahmen für diesen Winter. Wie sieht es langfristig aus?
Wir werden sehr bald eine deutliche Ausweitung der erneuerbaren Energien sehen. Es wird gerade einiges auf den Weg gebracht, zum Beispiel im Rahmen des Repower-EU-Programmes der EU-Kommission. Nationale Regierungen machen sehr viel. Deutschland zum Beispiel investiert 200 Milliarden in den Klimaschutz. Ein Teil davon fliesst in die Energietransition. Aber all das greift erst in ein paar Jahren.
All das, was man jetzt gerade anschiebt, wird uns nicht im nächsten Winter helfen.
Dazu kommen Lieferkettenprobleme, langandauernde Genehmigungsverfahren und der Fachkräftemangel. Das heisst, all das, was man jetzt gerade anschiebt, wird uns nicht im nächsten Winter helfen, sondern erst in ein paar Jahren.
Mit welchem Zeithorizont rechnen Sie?
Die nächsten fünf bis sechs Jahre kann es knapp werden. Die Preise werden relativ weit oben liegen. Ende der 2020er Jahre werden wir eine andere Situation haben. Die Nachfrage nach Erdgas und Erdöl wird zurückgehen. Denn dann greifen die Programme, die die EU aufgelegt hat. Zusätzlich greifen die Massnahmen, die jetzt im Rahmen der Krise und des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine aufgelegt werden. Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und wir werden uns immer wieder fragen müssen: Wie sieht es aus mit den Speichern? Werden sie voll? Und haben wir die Energie dann, wenn wir sie brauchen?
Das Gespräch führte Adam Fehr.