SRF News: Wie sind Sie an Informationen gelangt? Journalisten erhalten ja keinen Zugang zu ägyptischen Gefängnissen.
Borzou Daragahi: Wir haben mit ehemaligen Gefangenen und mit Anwälten gesprochen. Zudem hatten wir über Mittelsmänner heimlich Kontakt mit Gefangenen, die unerlaubterweise über ein Mobiltelefon verfügen. So konnten wir Aussagen anderer Quellen verifizieren.
Wie ist die Situation von politischen Gefangenen in ägyptischen Gefängnissen?
Da gibt es riesige Unterschiede. Ägypten hat ungefähr 40 offizielle Gefängnisse, die meisten in miserablem Zustand. Dort sitzen auch die prominenten Gefangenen wie zum Beispiel die Führungsspitze der Muslimbrüder ein. Diese werden meist etwas besser behandelt.
Daneben gibt es ein Netz aus Geheimgefängnissen. Viele sind 2013 nach dem Putsch gegen die von den Muslimbrüdern geführte Regierung geschaffen worden. Meistens sind es improvisierte Gefängnisse wie Lager auf Militärbasen oder in Kellern von Polizeistationen.
Die Orte sind ungeeignet, Gefangene längerfristig festzuhalten. Die Zellen sind überfüllt, die Insassen müssen mangels Platz in Schichten schlafen, während die anderen stehen. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal. Es gibt immer wieder Vorwürfe von Folter und Gewalt durch das Personal. Schwerer wiegt jedoch die generelle Vernachlässigung beim Essen oder der medizinischen Versorgung. Weil die meisten Orte für den Gefängnisbetrieb ungeeignet sind, können einzelne Gefangenengruppen kaum voneinander getrennt werden.
Wie gehen die inhaftierten Dschihadisten mit den übrigen Gefangenen um?
Es fällt auf, dass dschihadistische Gefangene den Schutz der Gefängnismauern nutzen, um andere Gefangene zu radikalisieren. Das ist grundsätzlich nichts Neues und passiert auch anderswo. IS-Gefangene suchen sich gezielt junge Männer aus. Sie haben meist keine politische Bildung und verstehen oft kaum, warum sie im Gefängnis sind. Weil sie an einer Demonstration teilgenommen haben oder weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Sie hadern mit ihrem Schicksal und suchen nach Gründen für ihre missliche Situation. Hier haken die IS-Häftlinge ein, liefern Deutungsmuster, schüren Wut und zeigen Möglichkeiten zur Rache.
IS-Gefangene suchen gezielt junge Männer, meist ohne politische Bildung und ohne Ahnung, warum sie in Haft sind.
Die grösste Gruppe der politischen Gefangenen sind Muslimbrüder, die am gewaltfreien Kampf gegen das ägyptische Militärregime festhalten. Wie vertragen sie sich mit den IS-Anhängern, die auf Gewalt setzen?
Sie hassen sich gegenseitig. Ich habe mit Muslimbrüdern gesprochen, und die verachten die Dschihadisten mehr als alle anderen Gefangenen. Die ältere Garde der Muslimbrüder hat aber Angst, jüngere Brüder an den IS zu verlieren. Denn viele junge Muslimbrüder zweifeln am Dogma der Gewaltfreiheit. Es findet ein wahrhaftiger politischer Wettstreit zwischen den beiden Gruppen statt. Es wird stundenlang über den richtigen Weg gestritten, was schon einige Male in körperliche Gewalt ausgeartet ist.
Die Muslimbrüder haben eine treue Gefolgschaft. Doch nun macht ihnen der IS die Rolle streitig.
Die Muslimbrüder sind seit Jahrzehnten die dominierende Gruppe in ägyptischen Gefängnissen. Sie indoktrinieren und organisieren die Gefangenen, bestechen Wärter, um Essen und verbotene Güter einzuschleusen. Dadurch schaffen sie sich eine treue Gefolgschaft. Doch nun macht ihnen der IS diese Rolle definitiv streitig.
Wie reagieren die Gefängnisbehörden auf diese Machtkämpfe zwischen Muslimbrüdern und Islamisten?
Sie haben nach den ersten Gewaltausbrüchen das Problem erkannt. Zudem fand man heraus, dass an den jüngsten blutigen Anschlägen in Ägypten auch IS-Leute beteiligt waren, die im Gefängnis angeworben wurden. Deshalb wird nun versucht, die einzelnen Gruppen räumlich zu trennen. Nur ist das in den meisten Gefängnissen aus Platzgründen gar nicht möglich. Zudem treffen die Gefangenen auch ausserhalb der Zellen aufeinander. Ich konnte einen Fall dokumentieren, bei dem ein Dschihadist während der Fahrt vom Gefängnis zu einem Gerichtstermin einen jungen Muslimbruder dazu gebracht hat, dem IS die Treue zu schwören.
Die räumliche Trennung der einzelnen Gruppen ist in den meisten Gefängnissen aus Platzgründen gar nicht möglich.
Findet diese ideologische Indokrtrinierung hinter Gefängnismauern auch in anderen arabischen Ländern statt?
Ich kenne ähnliche Beispiele aus der Türkei und anderswo. Gefangene, die Erfahrung darin haben, andere Menschen für den Dschihad zu rekrutieren, sitzen in Gefängnissen der gesamten islamischen Welt: von Indonesien über Tadschikistan bis Marokko. Das ist ein ungelöstes Problem. Wenn man IS-Rekrutierer mit anderen Gefangenen in Zellen steckt, ist das, wie wenn man den Wolf in den Hühnerstall sperrt.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.