Israel hat der extremistischen Hamas ein Ultimatum gestellt: Sollten die verbliebenen israelischen Geiseln nicht bis zum 10. März freikommen, werde Israel eine Offensive auf die südliche Grenzstadt Rafah starten – zum Auftakt des islamischen Fastenmonats Ramadan.
Was würde das für die rund 1.5 Millionen Menschen bedeuten, die innerhalb des Gazastreifens nach Rafah geflohen sind? Der freie Korrespondent Karim El-Gawhary, der aus Kairo mit lokalen Mitarbeitenden in Rafah in Kontakt steht, schätzt die Lage ein.
SRF News: Wie gehen die Menschen in Rafah damit um, dass die israelische Armee bald angreifen könnte?
Karim El-Gawhary: Sie sind in einer verzweifelten Situation. Vor ihnen, in Chan Junis, operiert die israelische Armee. Hinter ihnen ist der ägyptische Grenzwall. Mehr Süden gibt es im Gazastreifen nicht. Die Menschen sind körperlich ausgelaugt. Viele haben schon zwei, drei oder mehr Fluchtstationen hinter sich, bevor sie überhaupt in Rafah landeten.
Die Ägypter befürchten tatsächlich einen palästinensischen Massenexodus über die Grenze.
Sie haben mit solchen Menschen sprechen können.
Wir haben zum Beispiel eine Mutter von fünf Kindern interviewt. Sie lebt mit ihrer Familie in einem Zelt unmittelbar am ägyptischen Grenzwall. Sie sagte, das sei der fünfte Monat auf der Flucht – immer dann, wenn die israelische Armee dies forderte. Sie erzählte, dass sie mit ihrer Familie von Gaza-Stadt in den mittleren Teil des Gazastreifens, von dort in den Süden nach Chan Yunis und dann weiter bis nach Rafah fliehen mussten. An einen Ort, wo es auch nicht sicher ist.
In der Grenzstadt Rafah befinden sich 1.5 Millionen Menschen. Sollte es zu einem Angriff kommen, befürchtet der Nachbar Ägypten, dass die Leute über den Grenzzaun fliehen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dafür?
Sehr gross. Die Ägypter befürchten tatsächlich einen palästinensischen Massenexodus über die Grenze, wenn eine israelische Offensive beginnen sollte – ein Horrorszenario für die sie. Denn für sie ist das nicht nur ein Sicherheitsproblem. Die Ägypter wollen auch keinesfalls Teil eines palästinensischen Vertreibungsszenarios werden. Trotzdem bereitet sich Ägypten natürlich vor. Es gibt Berichte von bereits errichteten Notunterkünften in der Nähe des Grenzzauns auf ägyptischer Seite.
Wie stehen die Chancen, dass es die Menschen aus dem Gazastreifen auch tatsächlich über diesen Grenzzaun schaffen?
Der Grenzzaun ist kein Hindernis. Teile davon könnten entweder von den Israelis bei Kriegshandlungen oder von den Palästinensern selbst in die Luft gejagt werden. Viel hängt davon ab, wie gross die Verzweiflung auf palästinensischer Seite ist.
Gäbe es noch eine andere Möglichkeit?
Die USA haben Israel aufgerufen, innerhalb des Gazastreifens einen sicheren Korridor nach Norden zu schaffen, bevor es seine Offensive beginnt. Bisher wurde aber kein ausgearbeiteter Plan dazu veröffentlicht. Aber die grosse Frage ist: Selbst wenn es die Menschen unbeschadet aus Rafah schaffen, wo sollen sie hin? Sie kämen zurück in den Norden, wo praktisch alles zerstört ist. Es gibt keine Nahrungsmittel, kein Wasser, keine medizinische Versorgung. Sie stünden vor den Ruinen ihrer Häuser ohne jegliche Versorgung.
Es gibt bereits Menschen, die versuchen, sich in Richtung Norden durchzuschlagen.
Es gibt also keine andere Möglichkeit als die Flucht über den Grenzwall nach Ägypten?
Es gibt bereits Menschen, die ihre Sachen packen und versuchen, sich auf eigenes Risiko in Richtung Norden durchzuschlagen – mit dem grossen Problem, dass sie dort vor dem absoluten Nichts stehen. Wenn die Offensive kommt, werden wir Fluchtbewegungen in alle Richtungen erleben.
Das Gespräch führte Raphaël Günther.