Sie verliessen ihre Heimat mit dem Ziel, es nach Europa zu schaffen. Nun warten Hunderttausende Migrantinnen und Migranten in Libyen auf einen Platz auf einem Boot, das sie übers Mittelmeer bringt.
Viele harren seit Jahren in dem kriegsversehrten Land aus, das nach dem Tod von Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi vor zwölf Jahren in Chaos und Anarchie versank. Für Menschenhändler sind die Gestrandeten zu einem lukrativen Geschäft geworden: Sie entführen Geflüchtete, foltern sie und erpressen Lösegeld von den Angehörigen.
Das Entsetzen über die damaligen Berichte war gross. Gebessert hat sich die Situation aber nicht, wie die freie Afrika-Korrespondentin Bettina Rühl berichtet: «Migrantinnen und Migranten, die versuchen, nach Europa zu kommen oder auch nur auf der Suche nach Arbeit in die Städte an der libyschen Küste wollen, werden weiterhin entführt.»
Mittlerweile ist bekannt, dass auch in den Internierungslagern der international anerkannten libyschen Regierung gefoltert wird und Menschen misshandelt werden.
Die Gründe dafür, dass das menschenverachtende Geschäft mit den Geflüchteten weiter floriert, sind vielschichtig. Die politische Lage in Libyen ist weiter höchst instabil. Zwei rivalisierende Regierungen ringen um die Vormachtstellung, dazu kontrollieren verschiedene Milizverbände Teile des riesigen Landes. Und die Machtelite und die Behörden im Land hätten «weder die Kapazität noch den Wunsch», bei Verbrechen an Geflüchteten zu ermitteln, sagt Rühl.
Dichtes Netz an Kartellen
In Europa wiederum liegt der Fokus nicht auf der Menschenrechtslage im Land. «Die Frage ist eher, wie man verhindern kann, dass die Migrantinnen und Migranten das Mittelmeer überqueren», so die Afrika-Korrespondentin.
Am Geschäft mit Folter und Erpressung in Libyen sind laut Rühl verschiedene Akteure beteiligt. Zum einen internationale Kartelle, denen auch Schmuggler und Menschenhändler angehören, die selbst aus den Heimatländern der Geflüchteten stammen. Sie nutzen das Vertrauen aus, das ihnen ihre Landsleute in der Fremde entgegenbringen.
Zum anderen gibt es Kartelle, die sich aus libyschen Volksgruppen rekrutieren: Diese kontrollieren Teile der Migrationsroute in dem riesigen Land und pressen Geld aus den Geflüchteten. «Mittlerweile ist auch bekannt, dass auch in den Internierungslagern der international anerkannten libyschen Regierung gefoltert wird und Menschen misshandelt werden.»
Migranten wissen, was ihnen droht
Die verschiedenen Akteure gehen oft gleich vor: Sie entführen Flüchtlinge und Migranten und zwingen sie dazu, ihre Angehörigen in der Heimat zu kontaktieren. Diese sollen sie dann von ihren Peinigern freikaufen. «Häufig werden sie während dieser Anrufe gefoltert, damit die Angehörigen ihre Schmerzensschreie hören.»
Im Laufe der Jahre hat Rühl viele Menschen getroffen, die auf dem Weg nach Libyen waren oder sich schon dort befanden. Ihnen sei durchaus bewusst, welches Schicksal ihnen dort droht. Rühl erinnert sich an ein Gespräch mit einem Mann aus Guinea, der von Niger aus nach Libyen weiterreisen wollte. «Er hatte unglaubliche Angst, aber er hatte das Gefühl, dass er gar nicht anders kann – weil seine Familie von ihm die Flucht nach Europa erwartete.»
Andere versuchten, die Gefahren kleinzureden oder auszublenden. Überlebende wiederum berichteten der Journalistin, dass sie nie nach Libyen gegangen wären, hätten sie gewusst, was sie dort erwartet. «Mein Eindruck war: Wer diesen Horror nicht selbst erlebt hatte, konnte sich nicht vorstellen, in Libyen auf diese Weise gequält zu werden.»