Michel Barnier war selten klarer in seinen Brexit-Briefings. Er sagte heute, die Verhandlungen diese Woche seien kaum vorangekommen: «Ich bedaure das, und es beunruhigt mich.» Aus Westminster bestätigt ein schriftliches Statement, dass sich die beiden Seiten in ihren Verhandlungspositionen kaum nähergekommen sind.
Die Brexit-Verhandlungen, ohnehin mit ambitioniertem Ziel – ein Abkommen bis Ende Jahr – sind durch die Coronakrise stark erschwert worden. Nun wird es bis Juni zwei weitere Runden mit Video-Verhandlungen geben. Wenn diese laufen wie die erste, ist nicht auszuschliessen, dass danach wieder sehr ernsthaft und emotional über einen drohenden No-Deal-Brexit debattiert wird. Sie erinnern sich? Genau, so weit waren wir auch schon letztes Jahr. Dieses Mal wäre Stichtag der 31. Dezember 2020.
Verlängerung das einzig Sinnvolle
Wirtschaftsexperten und auch die eigenen Berechnungen der Regierung gehen davon aus, dass ein ungeregelter Brexit für die Wirtschaft schon in gewöhnlichen Zeiten sehr schädlich wäre. Die Coronakrise würde es zusätzlich verschlimmern. Folglich ist aus Sicht der wirtschaftlichen Vernunft eine Verlängerung das einzig Sinnvolle.
Aber wenn Brexit eins gezeigt hat, dann dass es nebst der wirtschaftlichen auch immer eine politische Sicht gibt. Die Brexit-Hardliner, viele davon haben Boris Johnson gewählt, wünschen keine Verlängerung. Und Johnson hat ihnen deshalb versprochen, dass die Brexit-Verhandlungen Ende Jahr abgeschlossen sein werden. Egal ob mit oder ohne Deal.
Kurswechsel im letzten Moment ist möglich
Boris Johnson ist absolut zuzutrauen, dass er politisches Kalkül über wirtschaftliche Vernunft stellt. Was bedeutet, dass die Briten wieder geradewegs auf einen No-Deal zusteuern. Was Johnson aber auch zuzutrauen ist, ist ein Kurswechsel im letzten Moment, wenn es die politischen Umstände erfordern. Zurzeit sind in Westminster beide Varianten zu hören, also dass Johnson hart bleibt, oder dass er doch noch einen Kurswechsel vollziehen wird.
Brüssel ist offen für eine Verlängerung von ein bis zwei Jahren, wie Michel Barnier sagt. Er überlässt es aber den Briten, eine solche einzufordern. Der Entscheid über eine Verlängerung muss – anders als 2019 – bereits sechs Monate vor dem Stichtag gefällt werden. Also Ende Juni. Es wird wohl ein heisser, beziehungsweise hitziger Sommeranfang werden.