Ein Tempel im Norden Mumbais. Am Eingang wacht eine festlich geschmückte Stein-Kuh. Zwischen den Hörnern, liebevoll drapiert: eine frische Blüte in Safrangelb, der traditionellen Farbe der Hindus.
Verschwörerisch flüstert der 11-jährige Meran der Stein-Kuh etwas in die steifen Ohren. «Ich wünsche mir ein gutes Gehirn von der Kuh und Erfolg im Leben.»
Solche Wünsche sind nicht Ungewöhnliches im Hindu-Glauben. Viele Anhänger dieser Religion halten Kühe für heilig und trauen ihnen Wunderkräfte zu.
Der oberste Priester des Tempels, ein junger Mann mit Tillak, dem safrangelben Zeichen der Hindus auf der Stirn, erklärt, warum: «In jeder Kuhmutter leben 330 Millionen Götter. Darum ist die Kuhmutter heilig und rein. Auch ihre Milch ist heilig und rein, genau wie ihr Urin.»
Polarisierende Politik
Rund 80 Prozent der 1.4 Milliarden Inderinnen und Inder sind Hindus. Seit dem Amtsantritt des Hindu-nationalistischen Premierministers Narendra Modi vor zehn Jahren ist es Ziel der Regierung, Indien auch politisch nach den Vorstellungen des Hinduismus auszurichten. Dies, obwohl mehr als 200 Millionen Muslime und Menschen anderer Religionen in Indien leben.
Um alle Hindus zu vereinen, schafft Modi einen gemeinsamen Feind: die muslimische Minderheit. Exemplarisch dafür ist sein Kampf für die heiligen Kühe.
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit setzte er den Schutz der Kühe auf die politische Agenda. In den meisten indischen Bundesstaaten – darunter allen, die von Modis Bharatiya Janata Party (BJP) regiert werden – ist es inzwischen verboten, Kühe und Rinder zu schlachten, deren Fleisch zu verkaufen oder Rinder zu Schlachtzwecken zu transportieren.
Totgeschlagen im Namen der heiligen Kuh
In der Kleinstadt Hapur, gut eine Autostunde westlich der Hauptstadt Delhi im Bundesstaat Uttar Pradesh, leben rund 260’000 Einwohner. Zwei Drittel davon sind Hindus, ein Drittel Muslime. Auf den staubigen Strassen spielen Kinder, schreiende Händler verkaufen Gemüse. Alles wirkt friedlich. Aber das täuscht.
Es ist Freitagvormittag, der Imam erinnert die muslimischen Gläubigen per Lautsprecher an ihre Gebetspflichten. Im Innenhof seines schlichten Hauses sitzt Samiuddin, ein Muslim mit einem langen weissen Bart. Im Schatten eines Baums schnaubt ein Wasserbüffel. Samiuddin, der nur seinen Vornamen benutzt, ist Bauer. Ein Lynchmobanschlag vor sechs Jahren hat sein Leben und das der ganzen Nachbarschaft für immer verändert.
Samiuddin war damals mit seinem Nachbarn auf dem Feld, um Futter für die Tiere zu holen. «Auf einmal sahen wir einen anderen Nachbarn, den Ziegenhändler Qasim, über das Feld rennen, verfolgt von einer Gruppe von 20, 25 Männern. Qasim brüllte um Hilfe. Als die Männer ihn erreichten, schlugen sie ihn. Dann kamen sie zu uns und schlugen auch mich. Ich fragte: Was ist los? Sie sagten: Du und Qasim, ihr habt eine Kuh geschlachtet.»
Er habe zu ihnen gesagt: «Ich habe keine Kuh geschlachtet. Hier ist keine Kuh, hier ist auch kein Messer. Wie könnt ihr so etwas behaupten?» Es seien immer mehr Leute gekommen. Sie hätten die beiden Männer heftig mit Stöcken geschlagen. «Meinen Schädel, ein Bein, beide Hände – alles haben sie mir gebrochen. Auch Qasim schlugen sie, ihm ging es noch viel schlechter als mir.»
Kurz nach dem Überfall stirbt Qasim. Samiuddin überlebt schwerverletzt. Der Anführer wird sich später gegenüber einem Fernsehsender mit der Tat brüsten und behaupten, die Muslime hätten Kühe getötet. Er habe den Muslim getötet.
Freipass für Hindu-Nationalisten
Als Premierminister Narendra Modi dem Kuhschlachten den Kampf ansagte, verstanden das viele überzeugte Hindu-Nationalisten als Freipass. An vielen Orten bildeten sich Netzwerke von selbsternannten Kuhbeschützern.
Menschenrechtsorganisationen zählten allein in Uttar Pradesh mehr als 30 Fälle von Lynchjustiz gegen vermeintliche Kuhkriminelle. Offizielle Daten gibt es nicht, die Regierung erfasst sie nicht. Opfer sind in den allermeisten Fällen Musliminnen und Muslime.
Ein Waisenhaus für Rinder
Die heiligen Kühe werden so gut geschützt, dass sie vielerorts zu einer Plage geworden sind. Bauern berichten über zerstörte Felder und aufgefressene Ernten. Die Regierung versucht, die Gemüter zu beruhigen, indem sie viel Geld für Kuhgnadenhöfe und Futter spendiert.
Wie so ein Gnadenhof aussehen kann, sieht man im Dorf Sangel, südlich von Delhi. Knapp 3000 Kühe drängeln sich hinter Absperrgittern, verrichten laut plätschernd ihre Geschäfte, muhen und stampfen. Es ist später Vormittag. Die Tiere haben Hunger. Der Gnadenhof ist einer von mehr als 660 im Bundesstaat Haryana. Seit dem Schlachtverbot ist deren Zahl markant gestiegen.
«Dieser Hof ist wie ein Waisenhaus für Rinder», sagt der 24-jährige Deepak, der hier früher gearbeitet hat. Aufgenommen würden Kühe und Stiere, die von Bauern ausgesetzt, auf der Strasse angefahren oder in nächtlichen Einsätzen gegen vermeintliche Schmuggler beschlagnahmt worden seien.
In einer Ecke des Hofes zieht Deepak plötzlich sein Smartphone aus der Tasche und zeigt stolz ein Foto. «Das ist Monu Manesar, mein bester Freund.» Darauf ist ein stämmiger junger Mann mit schwarzem Vollbart zu sehen, der herausfordernd in die Kamera blickt. Hinter ihm steht ein gutes Dutzend junger Männer.
«Monus' Team», sagt Deepak. Alle hätten hier auf dem Hof gearbeitet. Jede Nacht seien sie unterwegs, um Kuhschmuggler zu jagen. Monu Manesar ist der Deckname für einen der bekanntesten Kuhrächer Indiens. Er leitet die örtliche Kuhschutzeinheit der Bajrang Dal, einer militanten, Hindu-nationalistischen Jugendorganisation.
Seinen persönlichen Krieg gegen vermeintliche Kuhschmuggler hat Monu Manesar in Hunderten teils brutalen Videos und Fotos auf Youtube, Facebook und Instagram dokumentiert. «Es sei wie Krieg», sagt Deepak, der junge Mann im Tom&Jerry-T-Shirt. Sie seien Teil eines grossen Netzwerks und kooperierten auch mit der Polizei und der Bevölkerung.
Rückenwind für die Kuh-Bürgerwehr
Wie eng Religion und Politik in Modis Indien verzahnt sind, zeigt auch dieser Kuhgnadenhof in Haryana. Der Chef ist ein Guru, also ein religiöser Führer. Der Verwalter, Baba Jagdish, war lange Regionalchef der radikalen, Hindu-nationalistischen Organisation Vishva Hindu Parishat und örtlicher Vizechef der Regierungspartei BJP.
Niemand darf die Mutter der Hindus vor ihren Augen töten. Man muss tun, was die Lage an der Front erfordert.
Monu Manesar diene Mutter Kuh sehr gut, lobt Baba Jagdish, ein älterer Herr mit safranfarbenem Schal. Aber nun sei eine Verschwörung gegen ihn in Gang. Der Hindu-Nationalist verharmlost die Selbstjustiz der Kuh-Bürgerwehr.
«Monu Manesar war wütend. Wenn meine Mutter hier gestanden hätte und dein Bruder etwas gegen sie gesagt hätte, dann wäre es doch nur natürlich, dass du auch wütend wirst. Hindus müssen so sein. Niemand darf ihre Mutter vor ihren Augen töten. Man muss tun, was die Lage an der Front erfordert. Es ist nichts Falsches daran.»
Nur wenige Verurteilungen wegen Lynchjustiz
Es sei sehr viel Falsches daran, urteilte dagegen ein Regionalgericht in Uttar Pradesh. Vor wenigen Wochen verurteilte das Gericht zehn Männer wegen Mordes an Qasim, versuchten Mordes am Bauern Samiuddin, Randale und der Verbreitung religiöser Feindschaft zu lebenslanger Haft und Geldstrafen.
Das Urteil ist eines von wenigen Fällen in Indien, in dem Kuhaktivisten wegen Lynchjustiz verurteilt wurden. «Ich bin sehr glücklich über das Urteil. Ich danke Allah, dass das Gericht auf mich gehört und ihnen lebenslang gegeben hat, statt sie zu hängen», sagt Samiuddin.
Der Muslim Samiuddin hofft, dass das Urteil abschreckende Wirkung hat – ohne neuen Hass zu schüren. Er wolle nicht kämpfen, sondern sich den Glauben an sein Land und dessen Gesetze bewahren, sagt der alte Mann, der immer noch Angst hat.
Die Polarisierung zwischen Hindus und Nicht-Hindus hat sich verstärkt. Grosse Verantwortung dafür trägt Premierminister Narendra Modi. Auch jetzt – im Wahlkampf – setzt er gezielt auf Hindu-nationalistische Diskurse und hetzt offen gegen die muslimische Minderheit. Seine Strategie scheint aufzugehen. Laut einer aktuellen Umfrage unterstützen drei Viertel aller Inderinnen und Inder seine Politik. Die heiligen Kühe haben ihm gute Dienste geleistet.