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Gleichberechtigung Russland: So steht es um den Feminismus im Macho-Land

Männer regieren im Kreml, sie kontrollieren die Wirtschaft. Doch die Russinnen kämpfen immer mehr für ihre Rechte.

Die Sache war dem russischen Fernsehen eine Reportage wert: Die Frauen erobern die Moskauer Metro, genauer gesagt: den Führerstand. Bisher durften nur Männer die Zugkompositionen durch den Untergrund der Hauptstadt lenken. Seit Anfang Jahr sind auch Frauen zugelassen zu diesem Beruf. Ein Sieg der Emanzipation?

Jein. Denn ganz ungetrübt ist das Bild der gleichberechtigten Metro-Lenkerinnen nicht. Die Metro-Gesellschaft hatte sich zum Arbeitsbeginn der ersten Frauen etwas ganz besonderes überlegt und ein neues Souvenir vorgestellt: eine Barbie-Puppe in Metro-Uniform. Eine Barbie-Puppe: langbeinig, mit Wespentaille, langes blondes Haar. So ist das in Russland mit der Gleichstellung: einen Schritt vor, einen zurück.

Feministische Aktivistinnen haben es schwer

Im Prinzip sind Frauen in Russland gleichberechtigt. Faktisch stehen die Dinge anders: Frauen verdienen ein Drittel weniger als Männer, die grossen Staats- und Energiekonzerne werden von Männern gelenkt. Der Anteil der Frauen im Parlament beträgt gerade einmal 15 Prozent.

Solche Ungleichheiten gibt es in vielen Ländern. Der Unterschied: In Russland betrachtet es eine Mehrheit als «natürlich», dass Frauen weniger Macht haben als Männer. In Umfragen etwa sagen zwei Drittel der Russinnen und Russen, sie wollten keine Präsidentin, sondern einen Mann im Kreml.

Entsprechend gilt: Wer sich in Russland für Frauenrechte einsetzt, der oder die hat es schwer. Eine der bekanntesten feministischen Aktivistinnen ist Nika Vodvud. Die 27-jährige Videobloggerin spricht mit Witz und Scharfsinn über Feminismus und Frau-Sein.

Portrait der Videobloggerin Nika Vodvud
Legende: Nika Vodvud: Aktivistin, Feministin, Videobloggerin. Youtube

Ihr erfolgreichstes Video handelt von weiblicher Masturbation. Über vier Millionen Menschen haben sich angeschaut, wie Vodvud über Selbstbefriedigung aufklärt. Für Russland, ein Land, in dem es an den Schulen keine Sexualerziehung gibt, sind solche Videos eine kleine Revolution.

Bloggerin Vodvud mit ihren mal pink, mal grün gefärbten Haaren gehört zu einer kleinen Szene junger Feministinnen. Im Interview erzählt die junge Frau, dass auch sie nicht immer so gedacht hat wie heute. «Es gab eine Zeit, da hatte ich einen einzigen Brei im Kopf. Ich verstand nicht, was Feminismus ist. Ich dachte, Feminismus bedeute unrasierte Achselhöhlen.»

Sowjetmacht setzte auf «Emanzipation»

Solche Stereotypen über Feminismus sind weit verbreitet in Russland. Und das, obwohl sich die Sowjetmacht nach der Revolution die Befreiung der Frau auf die Fahnen geschrieben hatte. Frauen durften im Sowjetreich bereits ab 1917 wählen – viel früher etwa als in der Schweiz. Unter den Kommunisten war es auch eine Selbstverständlichkeit, dass Frauen arbeiteten. Bloggerin Vodvud: «Genau in dieser Geschichte liegt der Grund, warum viele Russinnen den Feminismus negativ sehen. Denn zu Sowjetzeiten war die Emanzipation ein Fake, eine Täuschung. Sie bedeutete für die Frauen schlicht: Doppelbelastung.»

Ein Youtube-Video von Nika Vodvud

Tatsächlich mussten sowjetische Frauen nicht nur arbeiten, sondern sich auch um Kinder und Haushalt kümmern. Eine ungleiche Rollenverteilung, bis heute die Norm in Russland. Nika Vodvud will mithelfen, dass sich in den Köpfen der Russinnen und Russen etwas ändert. «Mein Ziel ist es, dass, wenn jemand auf Russisch «Feminismus» googelt, er oder sie positive Informationen findet. Denn solche gibt es ziemlich wenig. Was es viel gibt, ist Material von «Hatern», von Leuten, die Feminismus hassen.»

Dem Staat gehen wir aus dem Weg, wir wollen nichts mit ihm zu tun haben.
Autor: Nika Vodvud Russische Aktivistin

Und diese Antifeministen, wie sie sich nennen, haben es auch auf Vodvud abgesehen. «Ein junger Mann führt einen eigenen Video-Blog über mich, in dem er jeden meiner Schritte verfolgt. Er hasst mich richtig.» Mehrfach, sagt Vodvud, sei sie schon umgezogen, weil feindlich gesinnte Männer ihre Adresse ausfindig gemacht hätten. Aber an die Polizei wende sie sich nicht – das bringe nichts.

Wladimir Putin mit nacktem Oberkörper und einem Pferd.
Legende: Der russische Präsident Wladimir Putin zeigt seine Muskeln. Keystone

Der Staat verfolgt die junge Bloggerin zwar nicht. Aber er beschützt sie auch nicht. Die Gleichgültigkeit ist gegenseitig: «Ich und die Leute um mich herum, wir versuchen einfach, unser Leben zu leben. Dem Staat gehen wir aus dem Weg, wir wollen nichts mit ihm zu tun haben.»

Der russische Staat wird für viele verkörpert von einem Mann: Wladimir Putin. Der Mann, der sich gern in Macker-Pose zeigt. Mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, mit Gewehr in der Wildnis, beim Fischen. Der Kremlchef als oberster Macho der Nation.

Progressives gegen konservatives Russland

Allerdings: Die Konfliktlinie zwischen dem progressiven und dem konservativen Russland verläuft nicht einfach zwischen Kreml und Volk. Die Gemengelage ist komplizierter.

Oksana Puschkina, 57, ist Mitglied der Kreml-Partei «Einiges Russland», sitzt im Parlament – und ist die wohl mächtigste Frauenrechtlerin Russlands. Im Gespräch mit Radio SRF erinnert sich Puschkina wie das war, als sie vor fünf Jahren in der Politik angefangen hat.«Ich kam da also hin und habe gesagt: Ich will Bürgerrechte verteidigen. Mich haben gleich alle gehasst.»

Oksana Puschkina
Legende: Die Parlamentarierin Oksana Puschkina bei einem TV-Interview. SRF

Puschkina ist bestens vernetzt – im Kreml, in der Regierung. Sie ist keine Oppositionelle – aber sie ist der Beweis, dass der Machtapparat in Russland eben kein monolithischer Block ist. Über die Kremlpartei «Einiges Russland» sagt sie: «Ich habe einen Parteikollegen, der stellt sich hin und sagt: 'Feminismus ist Extremismus – ich bin gegen Abtreibungen'. Und ich sage: 'Abtreibungen sollen von der Versicherung bezahlt werden – und ich bin natürlich für die Gleichberechtigung der Geschlechter.' Die Partei Einiges Russland ist eben vielfältig.»

Langbeiniges Püppchen gegen Selbstbestimmung

Besonders zutage getreten sind diese Konflikte innerhalb der Regierungspartei, als Puschkina für ein Gesetz gegen häusliche Gewalt warb. Bisher bleiben Männer, die ihre Frauen schlagen, oft unbestraft. Und Opfer von Gewalt in Familien können nirgendwo Schutz suchen.

Die Diskussionen über das Gesetz müssen ermüdend gewesen sein: «Manche Kollegen verstehen zum Beispiel nicht, was psychische Gewalt ist. Die fragen dann: 'Was heisst denn das? Wenn ein Mann zu seiner Frau sagt: Mach mir eine Suppe! – ist das schon psychische Gewalt?'»

Es gab Demonstrationen gegen mich, in manchen Kirchen wurden Totengebete gelesen, für meine Seele gebetet.
Autor: Oksana Puschkina Parlamentarierin Einiges Rsssland

Chauvinismus, Altherrenwitze – in Russland immer noch salonfähig. Parlamentarierin Puschkina machte aber noch ganz andere, schlimmere Erfahrungen: «Als ich an dem Gesetz gearbeitet habe, wurde mir klar, wie kurz der Weg ist von Konservatismus zu Extremismus. Da sind Leute richtiggehend durchgedreht. Es gab Demonstrationen gegen mich, in manchen Kirchen wurden Totengebete gelesen, für meine Seele gebetet.»

Totengebete, wenn jemand noch lebt – das kommt einer Morddrohung gleich. Die Angriffe auf Parlamentarierin Puschkina kamen von straff organisierten konservativen Aktivisten, von denen viele enge Verbindungen zur orthodoxen Kirche haben.

Was heisst es also, eine Frau zu sein in Russland, jetzt, im Jahr 2021? Vielleicht kann man so antworten: Die Moskauer Metro hat ja diese Barbie-Puppen herausgegeben in Lokführerinnen-Uniform. Auf der rosaroten Verpackung steht: «Du kannst werden, wer immer Du sein willst.»

Langbeiniges Püppchen und Selbstbestimmung? Tönt nach Widerspruch, tönt nach Russland.

International, 13.02.2021

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