Leergefegte Innenstädte, Social Distancing und Weihnachten im engsten Familienkreis – verordnet vom BAG: Während der Pandemie herrschte auch in der Schweiz Ausnahmezustand. Und mit ihm Ungewissheit, Isolation und Ohnmacht. Ein Gemisch, das vielen Menschen aufs Gemüt drückte – und das in ganz Europa.
Kaum neigte sich die Pandemie dem Ende zu, zog neues Ungemach herauf: An der Grenze zur Ukraine marschierten im Februar 2022 Putins Truppen auf – und überfielen das Land schliesslich. Der russische Angriffskrieg löste Schockwellen in ganz Europa aus.
Der Krieg im Kopf
Eine neue Studie im Fachmagazin «Nature Communications» zeigt nun: Die psychische Belastung durch den Kriegsausbruch war für die Menschen auf dem Kontinent grösser als diejenige durch den Corona-Lockdown 2020. Zu diesem Schluss kommt ein internationales Forscherteam.
Der Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine vor zwei Jahren hat demnach zu einem kollektiven Einbruch des Wohlbefindens geführt – unabhängig von Alter, Geschlecht, politischer Orientierung oder sonstigen Eigenschaften der befragten Personen.
An der Studie waren auch Forschende der Universität St. Gallen beteiligt. Einer von ihnen ist der Verhaltenswissenschaftler Clemens Stachl. «Mit Kriegsbeginn ging es vielen der befragten Personen in Europa im Vergleich mit dem Rest der Welt sehr viel schlechter», erklärt der Mitautor der Studie.
Weit weg und doch sehr nah
Die Einschränkungen der Pandemie betrafen die Menschen zwar unmittelbarer als der Kriegsausbruch in der Ukraine. Doch dem Blutvergiessen tief im Osten Europas konnte sich kaum jemand entziehen: «Neben den offensichtlichen Folgen des Krieges wie Flucht oder unterbrochenen Versorgungsketten gibt es eine weniger offensichtliche Dimension: die Auswirkungen der täglichen Nachrichten und Bilder auf die Psyche», heisst es in der Studie.
Als der Krieg ausgebrochen ist, war man sofort emotional sehr belastenden Bildern ausgesetzt.
Kommt hinzu: Während sich die Pandemie eher schleichend über den Globus ausbreitete, eskalierte die Lage in der Ukraine quasi über Nacht. Aus russischen Muskelspielen an der Grenze zur Ukraine wurde in Windeseile ein ausgewachsener Krieg in Europa. Ein Schrecken, der vielen Menschen durch Mark und Bein ging.
«Als der Krieg ausgebrochen ist, war man sofort emotional sehr belastenden Bildern ausgesetzt», führt Stachl aus. «Kämpfe, Explosionen, Tote – die Bilder erreichten die Menschen von einem Moment auf den anderen.» Wenn der Krieg in der Ukraine in den sozialen Medien besonders stark präsent war, gab es eine durchschnittlich schlechtere mentale Verfassung bei den Befragten.
Unterschiedlich lange Erholungszeiten
Zu dieser ganz konkreten Schockerfahrung kam die abstrakte Angst, dass der Krieg auf ganz Europa ausgreifen könnte. Die Studie kommt auch zum Schluss: Wer sich selbst als psychisch stabil bezeichnet, erholte sich schneller vom Einbruch des mentalen Wohlbefindens. Bei Menschen, die sich als weniger stabil bezeichnen, war dieses für längere Zeit deutlich beeinträchtigt.
Die Studienautoren verstehen dies auch als Aufruf an politische und gesellschaftliche Akteure in Krisenzeiten. «Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass Angebote für Leute geschaffen werden sollten, die von solchen Ereignissen besonders betroffen sind», bilanziert Stachl.