Keine Züge, sondern streikende Eisenbahnangestellte haben britische Pendlerinnen und Pendler am Dienstag auf den Bahnhöfen angetroffen. Einige Hunderttausend Leute mussten zu Hause bleiben oder auf die Strasse ausweichen. Ein Chaos, das Transportminister Grant Shap in letzter Minute abzuwenden versuchte: «Ein Massenstreik ist das letzte, was wir im Moment in diesem Land brauchen. Die Leute wollen zur Arbeit gehen, die Schule besuchen. Dieses Chaos ist eine Zumutung. Ich fordere die Gewerkschaften auf, sich das alles noch einmal zu überlegen.»
Für mehr Geld und weniger Stellenabbau
Umsonst: Gut 40'000 Bahnangestellte haben ihre Arbeit niedergelegt. Die Eisbahnunternehmen versuchten den Kollaps mit einer Lohnerhöhung von drei Prozent zu verhindern. Das reiche nicht, um die Inflation von 10 Prozent auszugleichen, meinte Eisenbahner-Gewerkschaftssekretär Mick Lynch zu SkyNews.
Und es gehe nicht nur um Geld. Tausende von Stellen sollen gestrichen werden. Gegen 5000 Arbeitsplätze fielen bereits weg. Beim Unterhalt des Streckennetzes sollen weitere 3000 Jobs verschwinden, unzählige Stellen sollen im Rahmen der Automatisierung von bedienten Schaltern verloren gehen, zählt Lynch auf.
Wenn ich zu meinem Vorgesetzten gehe und höflich um eine Gehaltserhöhung bitte, passiert gar nichts.
Der erste Streiktag sorgte nicht nur für Ärger, sondern auch für Ausfälle. Allein die Tourismusbranche rechnet in diesen Tagen mit einem Defizit in Millionenhöhe. Unschön, aber leider unvermeidbar, meint ein Lokfüher: «Wenn ich zu meinem Vorgesetzten gehe und höflich um eine Gehaltserhöhung bitte, passiert gar nichts.» Keinem mache streiken Spass. «Aber wenn das Unternehmen stur bleibt, bleibt uns nichts anders übrig.»
Marodes Schienennetz
Das britische Eisenbahnnetz wurde vor 30 Jahren privatisiert. Gestiegen sind seither die Passagierzahlen und die Preise. Gesunken ist die Kundenzufriedenheit. Grund sind die häufigen Ausfälle und Verspätungen. Elegante Zugkompositionen verkehren auf einem maroden Schienennetz.
In der aktuellen wirtschaftlichen Situation mit einer Inflation von 9 bis 10 Prozent ist es keine nachhaltige Politik, diese mit Lohnerhöhungen ausgleichen.
Der Modernisierung stehen nicht nur leere Kassen im Weg, sondern ebenso das Betriebspersonal. Die Nationale Transport-Union ist eine der letzten grossen gewerkschaftlichen Bastionen. Bis heute ist die Sonntagsarbeit für das Eisenbahnpersonal freiwillig. Selbst die Schliessung von unrentablen Bahnstationen scheitern am Widerstand der Gewerkschaften.
Effizient ist das nicht und vielleicht mit ein Grund, dass Labour-Chef Keir Starmer den Streik weder klar unterstützt noch verurteilt: «Leider ist es eine Tatsache, dass Boris Johnson und sein Transportminister politisch davon profitieren, wenn das Land zum Stillstand kommt. Die Spaltung der Gesellschaft ist bei ihnen Programm. Sonst würden sie längst am Verhandlungstisch sitzen.»
Regierung bleibt hart
Tatsächlich hat sich die Regierung bis heute geweigert, selber an den Verhandlungstisch zu sitzen oder einer Lohnerhöhung zuzustimmen. Der Staat habe den öffentlichen Verkehr während der Pandemie mit 19 Milliarden Franken unterstützt. Jetzt werde erst einmal zurückbezahlt und nicht gefordert, meinte der Generalsekretär des Schatzkanzleramtes Simone Clark gegenüber der BBC: «In der aktuellen wirtschaftlichen Situation mit einer Inflation von 9 bis 10 Prozent ist es keine nachhaltige Politik, diese mit Lohnerhöhungen ausgleichen. Das funktioniert weder in der Privat-Wirtschaft noch im öffentlichen Dienst und wäre der kürzeste Weg in eine monströse Verschuldung.»
Die harte Linie der Regierung hat einen Grund. Ein Einknicken könnte die Begehrlichkeiten von anderen Berufsgruppen wecken. Die Sorge ist nicht unbegründet. So haben bereits die Lehrer, die Ärztinnen und Pflichtverteidiger mit einem Streik gedroht. Der Sommer in Grossbritannien könnte also nicht nur heiss, sondern auch chaotisch werden.