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Grundgesetz feiert Jubiläum «Sie wussten genau, was Menschen anderen Menschen antun können»

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stand Deutschland vor der Frage, wie ein demokratischer Rechtsstaat aufzubauen sei, der sich gegen extremistische Kräfte behaupten kann. Politikwissenschaftlerin Sabine Böhne-Di Leo ordnet ein.

Sabine Böhne-Di Leo

Politik

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Sabine Böhne-Di Leo ist Politikwissenschaftlerin und Autorin des Buches «Die Erfindung der Bundesrepublik».
Seit Oktober 2009 ist sie Professorin für Journalismus und Politik an der Hochschule Ansbach.

SRF News: Warum spricht man vom Grundgesetz und nicht von der Verfassung?

Sabine Böhne-Di Leo: Der Anstoss zu einer Verfassung ging von den alliierten Besatzungsmächten aus. Die Deutschen hingegen befürchteten, dass eine westdeutsche Verfassung zur Teilung Deutschlands führen würde. Denn die Ostdeutschen, die unter sowjetischer Besatzung standen, waren an diesem Prozess nicht beteiligt. Es wurde zwar eine Verfassung erarbeitet, aber sie wurde mit Worten kleingeredet. Westdeutsche Politiker betonten den provisorischen Charakter, um den Ostdeutschen zu signalisieren: Wir warten auf euch, wir nehmen euch mit ins Boot. Und dazu gehörten eben auch Begriffe wie Grundgesetz.

Wer hat das Grundgesetz verfasst?

Die Delegierten kamen aus den Landtagen und verfügten über juristischen und wirtschaftlichen Sachverstand.

Sie wussten genau, was Menschen anderen Menschen antun können – und wollten dies für alle Zukunft verhindern.

Es waren Menschen, die in der Weimarer Republik hohe Ämter bekleidet hatten, meist erwiesene Nazigegner, die während der Nazizeit in Konzentrationslager verschleppt wurden oder ins Ausland geflohen waren. Sie wussten genau, was Menschen anderen Menschen antun können – und wollten dies für alle Zukunft verhindern. Ihr Ziel war es, das demokratische Haus einbruchssicher zu machen – und sie haben versucht, die Schwächen der Weimarer Verfassung zu korrigieren. Ich glaube, das ist ihnen gelungen.

Das Grundgesetz wurde in den letzten Jahren immer wieder angepasst – über 60 Mal. Würden Sie sagen, dass das Grundgesetz heute noch zeitgemäss ist?

Auf jeden Fall. Das Grundgesetz hat sich in den letzten Jahren nur insofern verändert, als es sich der Gesellschaft angepasst hat. Eine Verfassung gibt immer nur ein Normengerüst vor und regelt damit den Staatsaufbau. Alles andere wird durch andere Gesetze geregelt. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist es, die neu geschaffenen Gesetze immer wieder mit dem Grundgesetz abzugleichen und zu prüfen, ob es nicht verletzt wird.

Es gibt gewichtige Stimmen, die sich um das Grundgesetz sorgen und es stärker schützen wollen – Stichwort Parteienverbot. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Deutschen kein Vertrauen in die Belastbarkeit der Demokratie haben?

Das würde ich nicht sagen. Ich glaube, dass viele Deutsche vorsichtig sind.

Derzeit sind nur die Aufgaben, nicht aber die Organisation und die Wahl der Richterinnen und Richter im Grundgesetz geregelt.

Wir erleben derzeit einen bemerkenswerten Rechtsruck in der Gesellschaft – verbunden mit offener Gewalt in diesem Wahljahr. Es gibt juristische Fachpersonen, die fordern, das Bundesverfassungsgericht stärker im Grundgesetz zu verankern. Derzeit sind nur die Aufgaben, nicht aber die Organisation und die Wahl der Richterinnen und Richter im Grundgesetz geregelt. Dies soll geändert werden, sodass auch die Zusammensetzung und die Dauer der Wahlperioden grundgesetzlich abgesichert werden.

Das Gespräch führte Simone Hulliger – Mitarbeit Géraldine Jäggi.

Tagesgespräch, 15.05.2024. 14:00 Uhr ; 

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