Grossbritannien reagiert mit drastischen Massnahmen, um Druck aus dem überlasteten Strafvollzug des Landes zu nehmen.
Denn der Zustand vieler Haftanstalten sei «schlimm», erklärt der britische Gefängnisinspektor Charly Taylor. Er berichtet von unhaltbaren Zuständen: «Es gibt Häftlinge, die sind 22 Stunden in oft überbelegten Zelle in prekären hygienischen Zuständen, dafür sind Wiedereingliederungsprogramme unterbelegt», so Taylor.
Hinzu kommt die chronische Überfüllung. Die Regierung sieht sich daher gezwungen, Tausende Straftäter vorzeitig zu entlassen.
Wer in die Freiheit gelangt, bevor die verhängte Strafe abgesessen ist, ist klar geregelt, erklärt Grossbritannien-Korrespondent Patrik Wülser. Entlassen werden sollen Häftlinge, die bereits 40 Prozent ihrer Strafe verbüsst haben. Ausdrücklich ausgeschlossen sind dabei Gewalt- und Sexualstraftäter sowie Personen, die wegen häuslicher Gewalt verurteilt wurden.
Die Angst geht um
Doch genau hier gibt es bereits Unstimmigkeiten, weiss der SRF-Korrespondent: «Einige britische Medien berichten seit Tagen, dass auch Täter häuslicher Gewalt freikommen.» Das befürchteten auch Organisationen, die Opfer häuslicher Gewalt betreuen. «Die Angst unter den Betroffenen ist dementsprechend gross», sei laut Wülser in diesen Medien zu lesen.
Die Kapazität der britischen Gefängnisse ist längst überschritten. Bereits Anfang Jahr wurde die Polizei temporär angewiesen, mit Verhaftungen zurückhaltend zu sein. Weil mit dem Bau neuer Gefängnisse keine politischen Lorbeeren zu ernten seien, versuche die Regierung auf diese Weise Druck aus dem Vollzugssystem zu nehmen, erklärt Wülser.
Zurzeit sitzen etwa 90'000 Menschen im Gefängnis. Ein Rekord.
Und der Zustand der Gefängnisse sei tatsächlich bedenklich. Sie sind veraltet und oft völlig vernachlässigt. Die Bauten stammten zum Teil aus der viktorianischen Zeit. Es fehle aber auch an Personal. «Zurzeit sitzen etwa 90'000 Menschen im Gefängnis. Das ist ein riesiger Bevölkerungsanteil. Ein neuer Rekord», sagt Wülser.
Suizide an der Tagesordnung
Laut Wülser sind aber nicht nur die Gefängnisse in desolatem Zustand. Auch die Art des Strafvollzugs schreit nach einer Reform. «Die Gefangenen sind tagelang in ihren Zellen eingesperrt», erzählt Wülser, der mit vielen Experten und Betroffenen in Grossbritannien gesprochen hat.
Sie würden so nicht auf ihre Freiheit vorbereitet und hätten auch keine psychologische Betreuung. «Einzelne Gefangene haben mir von Suiziden berichtet, die an der Tagesordnung sind», so Wülser.
Politisches Risiko für Labour
Die Gefahr sei gross, dass Labour mit diesem Vorgehen politisch Schiffbruch erleidet, ist Wülser überzeugt. «Ruhe und Ordnung» würden ja verlässlich in allen Wahlprogrammen der Parteien auftauchen, und zwar bei Labour und den Tories. Wenn jetzt der Staatsanwalt mehrere Tausend Sträflinge vorzeitig in die Freiheit entlässt, dürfte es nicht reichen, mantraartig zu betonen, dass die Regierung diese Misere von der Vorgängerregierung, den Tories, geerbt hätte.
Zwar sei es tatsächlich zutreffend, dass die Tories den Strafvollzug während 15 Jahren vernachlässigt hätten, sagt Wülser. «Aber nun ist Starmer am Ruder. Er trägt die Verantwortung.» Es genüge nicht, dass er mit dem Finger immer in die Vergangenheit zeige. Wenn jetzt verurteilte Täter ohne richtige Betreuung in die Freiheit entlassen würden, «dann ist das ein Risiko, ein politisches Risiko», so Wülser.