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Neue britische Regierung «Blame Game» voll im Gang – doch bald muss Labour liefern

Schonzeit für Premier Starmer: Drei Wochen nach der Wahl glänzt Labour vor allem mit Schuldzuweisungen an die Vorgänger.

Fast täglich präsentiert die neue Labour-Regierung unter Premier Keir Starmer in den Medien neue Schadenplätze, die ihr von den Tories hinterlassen worden seien. Dabei wird in markigen Worten geschildert, dass das Ausmass der Probleme nach 14 Jahren Tory-Regierung noch viel grösser sei als erwartet.

Eine Kritik betrifft das Justizvollzugssystem mit überfüllten Gefängnissen und teils menschenunwürdigen hygienischen Verhältnissen. In den zu 99 Prozent besetzten Gefängnissen gibt es aktuell nur 1400 freie Zellenplätze. Teilweise wurde die Polizei angewiesen, Verhaftungen zurückhaltend vorzunehmen. Dazu kommt ein Projekt, Gefangene deutlich vorzeitig zu entlassen, um Kapazitäten zu schaffen.

Keir Starmer in Nahaufnahme
Legende: Wie will Premier Keir Starmer Grossbritannien aus der Krise führen? Der Labour-Chef verlässt am 24. Juli 2024 Downing Street für seine erste Fragestunde vor dem Parlament, die «Prime Minister's Questions» (PMQs). Keystone/EPA/Andy Rain

Zur maroden Wasserversorgung kommen die langen Wartezeiten im öffentlichen Gesundheitswesen von mehreren Monaten für Operationen. Untermalt auch mit Berichten von Menschen, die sich die Zähne selber flicken, weil sie nicht ein Jahr warten können.

Teures Ruanda-Projekt

Zerpflückt wird auch die Asylpolitik von Premier Rishi Sunak, der Asylsuchende nach Ruanda ausfliegen wollte. Das Projekt stoppte Starmer gleich nach Amtsantritt. Die Buchhaltung zeigt nun, dass es bis heute umgerechnet 800 Millionen Steuerfranken gekostet hat.

Dass die neue Regierung nun zuerst die Fehler der alten Regierung breitschlägt, statt eigene Wahlversprechen einzulösen, gehört ein bisschen zum politischen System: Der Regierungssitz in Downing Street wird komplett ausgewechselt, teilweise auch die Stäbe in den Ministerien. Im Gegensatz etwa zur Schweiz, wo am Tag nach der Parlamentswahl in der Bundesverwaltung alles ohne grössere Veränderung seinen gewohnten Lauf nimmt.

Das «Change»-Versprechen

Es ist aber auch eine Taktik, in den ersten Wochen mit dem Finger auf alles zu zeigen, was man von früher vorfindet: Man will nicht verantwortlich sein, bekommt eine Schonfrist und wird nicht unmittelbar zur Rechenschaft gezogen.

Allzu lange kann man sich so nicht herausreden. Britinnen und Briten haben von Beschwichtigungen und Durchhalteparolen genug. Sie haben den versprochenen «Change» gewählt, und spätestens nach den Sommerferien wird Premier Starmer liefern müssen.

Wer soll das bezahlen?

Dafür braucht es Ideen, Pläne und Geld. Sonst können all die Sanierungsprojekte wie etwa die Wasserversorgung, die angestrebte Renationalisierung der Bahn und weitere Infrastruktur- und Reformprojekte nicht verwirklicht werden. Doch die Ressourcen sind klein und der Schuldenberg so gross wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

Labour versprach während des Wahlkampfs, dass die nötigen Ressourcen mit Wirtschaftswachstum generiert werden sollen. Doch dies lässt sich weder herbeireden noch herbeizaubern. Starmer sagte von sich selbst, er sei Premierminister und nicht Zirkusdirektor. Trifft das Wirtschaftswachstum nicht ein, bleibt so nur sparen oder die Baustellen liegenlassen. Das wiederum geht unter dem Versprechen «Change» nicht.

Doch neue Steuern?

So könnte es durchaus sein, dass Starmer den «Change» auch über neue Steuern erreichen will. Wie sein Vorgänger Sunak hat er zwar versprochen, die Steuern nicht zu erhöhen. Indem er aber präzisierte, es gebe keine Steuererhöhungen für die arbeitende Bevölkerung, liess er sich eine Tür offen. Mit dieser ziemlich schwammigen Definition könnte es durchaus sein, dass Starmer den «Change» mit neuen Steuern finanzieren will.

SRF 4 News, 25.07.2024, 06:46 Uhr;schn

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