Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag hat einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin erlassen. Der russische Präsident sei verantwortlich für Kriegsverbrechen in der Ukraine. Wegen ähnlicher Vorwürfe gibt es auch einen Haftbefehl gegen Maria Lvova-Belova, Putins Beauftragte für Kinderrechte. Der Journalist Thomas Verfuss in Den Haag berichtet seit Jahren über den ICC. Er erklärt, was der Haftbefehl für Putin bedeutet.
SRF News: Was genau wirft der ICC den beiden vor?
Thomas Verfuss: Chefankläger Karim Khan wirft Putin und Lvova-Belova vor, dass sie hunderte ukrainische Kinder aus Waisen- und Kinderhäusern deportiert und in Russland zur Adoption freigegeben haben sollen. Die Anklage läuft unter Kriegsverbrechen. Khan hat das geschickt gemacht. Wäre es als Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt worden, hätte man auch beweisen müssen, dass es um die Absicht ging, aus den ukrainischen Kindern «kleine Russen» zu machen.
Dadurch, dass die beiden der Kriegsverbrechen bezichtigt werden, ist die Deportation entscheidend. Kommt hinzu: Man muss nicht beweisen, dass Putin dies selbst getan hat. Es geht darum, dass er nicht verhindert hat, dass Untergebene es getan haben.
Dass der ICC in der Ukraine ermittelt, war bekannt. Hat man mit einem Haftbefehl gegen Putin rechnen müssen?
Ja und Nein. Dass es Kriegsverbrechen in der Ukraine gegeben hat, haben wir im letzten Jahr schrecklicherweise ständig in den Medien gesehen. Der Haftbefehl ist vom Chefankläger beantragt worden. Hier spielen auch politische Erwägungen mit.
Internationale Strafgerichtsbarkeit braucht Geduld.
Wegen des Transfers der Bevölkerung aus oder in besetztes Gebiet hätte man auch den israelischen Premier Benjamin Netanyahu anklagen können. Der macht das Gleiche wie Putin, nur in die umgekehrte Richtung. Es spielen also Erwägungen politischer Opportunität mit – und die Hoffnung, dass Haftbefehle auch irgendwann einmal umgesetzt werden.
Die geopolitische Lage ist aktuell sehr angespannt. Wie heikel ist ein solcher Haftbefehl in dieser Situation?
Er steht nun da als Symbol. Eine nationale Polizei will immer, dass ein Haftbefehl so schnell wie möglich ausgeführt wird. Internationale Tribunale sind geduldiger. Man denke nur an den ehemaligen Präsidenten des Sudans, Umar al-Baschir. Gegen ihn gab es seit 2009 einen Haftbefehl. Er blieb noch bis 2019 an der Macht. 2020 hat die neue Regierung des Sudans ICC-Chefankläger Khan versprochen, dass man Baschir nach Den Haag schickt. Nun schreiben wir 2023. Internationale Strafgerichtsbarkeit braucht Geduld.
Putin dürfte wegen des Haftbefehls kaum morgen verhaftet werden.
Es sei denn, es gibt einen Putsch in Russland. 1999 hat man gesehen, dass Slobodan Milosevic – damals Präsident Jugoslawiens – vom Jugoslawien-Tribunal am ICC angeklagt wurde. Er blieb damals einfach in Belgrad. 2000 wurde er abgewählt; ein Jahr darauf setzte ihn sein Nachfolger ins Flugzeug nach Den Haag. Wer weiss, was morgen in Russland passiert.
Man darf wohl kaum damit rechnen, dass Putin freiwillig nach Den Haag kommt.
Möglich ist auch, dass ein angeklagter Staatspräsident freiwillig nach Den Haag kommt. Auch das gab es. Nämlich im Fall des ehemaligen kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta. Als er 2013 Präsident wurde, kam er weiterhin freiwillig nach Den Haag (vor dem ICC wurde Kenyatta 2010 wegen Anstiftung zum Mord, Vertreibung und Raub angeklagt. Die Anklage wurde Ende 2014 aus Mangel an Beweisen zurückgezogen, Anm. der Red.). Damit darf man bei Putin wohl kaum rechnen.
Das Gespräch führte Christina Scheidegger.