Der Krieg in Syrien. Der Aufstieg der Terrormiliz «Islamischer Staat». Die Verfolgung der Rohingya in Myanmar. Die Pandemie. Die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Und nun: der Krieg in der Ukraine. Die Liste der Konflikte und Ereignisse, die Peter Maurers zehnjährige Amtszeit als Präsident des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) geprägt haben, liesse sich noch lange fortsetzen. Vor seinem Rücktritt Ende September war er in der SRF-Sendung «Club» zu Gast.
SRF News: Peter Maurer, welches Gefühl überwiegt nach diesen zehn Jahren: Wehmut? Erleichterung? Dankbarkeit?
Peter Maurer: Alles zusammen. In zehn Jahren erlebt man ja auch die ganze Gefühlspalette. Ich spüre eine grosse Befriedigung darüber, was ich machen konnte. Und ich bin überzeugt, dass jetzt der richtige Moment ist, zu gehen. Aber ich habe in dieser Zeit auch viele Menschen kennengelernt, viele gute Gespräche geführt. Daher mischt die Wehmut auch mit. Aber insgesamt blicke ich zurück und habe den Eindruck, dass wir keinen wesentlichen internationalen Konflikt verpasst haben – dass es eine gute Zeit war für das IKRK.
Sind Sie ein anderer Mensch, als Sie vor zehn Jahren waren?
Ich denke schon, dass die Auseinandersetzung mit und auch das Erleben der krassen Auswirkungen von Konflikten einen verändert – vor allem, wenn man das immer wieder sieht und selbst mittendrin ist. Was mich überrascht hat: Irgendwann habe ich gemerkt, dass es fast leichter ist, wenn man es selbst erlebt, als wenn man nur die Bilder in den Medien sieht.
Wenn man in die Kriegsregionen reist und mit den Menschen spricht, bekommt der Schrecken andere Proportionen. Es ist auch schlimm, aber man kann ihn besser einordnen. Wenn man nur die Bilder sieht, spielt das Hirn verrückter. Der reale Schrecken ist weniger schlimm als der imaginäre.
Ein Teil Ihrer Arbeit besteht darin, mit allen Kriegsparteien zu sprechen und zu verhandeln. Diese Unparteilichkeit wird auch immer wieder kritisiert. Wie spricht man mit Menschen, die an einem Bruch des Völkerrechts beteiligt sind?
Ich denke, man muss zuerst einmal zuhören. Man muss verstehen, was die treibenden Kräfte sind. Wie sind wir dorthin gekommen, wo wir sind? Auch mit Kriegsparteien muss man Empathie haben, selbst wenn es schwierig ist. Wenn Sie in Ihrem Gesprächspartner nur den Rechtsverletzer, den Vergewaltiger, den Terroristen sehen, sind Sie in einer Logik der Stigmatisierung. Aus dieser Logik muss man herauskommen, sonst ist man kein glaubhafter, neutraler Intermediär.
Alle verlangen immer Positionen und verstehen Neutralität als Mutlosigkeit.
Wenn Sie mit allen Seiten sprechen und versuchen, Verständnis aufzubauen, dann kommen Ihnen auch Ideen, was die jeweiligen Seiten tun könnten, um wieder miteinander zu diskutieren. Aber Verständnis bedeutet nicht Entschuldigung. Es ist wichtig, dass man das auseinanderhält.
Dieses Vorgehen wird nicht immer akzeptiert, wie wir gerade in letzter Zeit immer wieder gesehen haben: Alle verlangen immer Positionen und verstehen Neutralität als Mutlosigkeit. Aber Neutralität ist ein praktischer Grundsatz, der einem hilft, diese Arbeit zu tun.
Wie erkennen Sie in einem solchen Gespräch, dass das, was Sie sagen, bei Ihrem Gegenüber wirklich ankommt?
Die interessanten Augenblicke sind dann, wenn das Gegenüber etwas sagt, was nicht vorgesehen war. Wenn man merkt, dass ein zusätzliches Element von Ehrlichkeit reinkommt oder eine Erklärung, die nicht in den «talking points» oder im «briefing» stand. Plötzliche emotionale Reaktionen sind Indikatoren dafür, dass Sie daran sind, das Gesprächsklima zu verändern.
Das sind erste Anzeichen von Vertrauensbildung. Das hat auch damit zu tun, dass Sie selbst versuchen, offen und ehrlich zu sein und zu differenzieren. Dies heisst nicht, dass ich nicht über Verletzungen des humanitären Völkerrechts spreche. Aber ich versuche auch immer wieder, einzuordnen. Mit der Zeit bekommt man ein Gespür dafür, wie man solche Brüche herstellt.
Wo lernt man das? Wohl kaum in der Diplomatenschule?
Diplomatie ist nicht von ungefähr zugleich ein Beruf und eine Kunst. Weil sie ein Beruf ist, kann man gewisse Dinge lernen. Andere bewegen sich im Bereich des Instinkts, der Intuition, dem Spüren von Stimmungen. Dafür braucht man Erfahrung. Man muss lernen, erleben und Fehler machen – merken, dass man die Stimmung im Raum falsch gelesen hat. Dieser Prozess war für mich der interessanteste in den letzten zehn Jahren, aber auch schon davor als Diplomat. Das hat mich immer fasziniert. Und es ist auch die Essenz dessen, was wir im IKRK zu tun versuchen.
Welches Gespräch ist Ihnen in Erinnerung geblieben, weil Sie etwas drehen konnten, einen Schritt weitergekommen sind?
In aller Bescheidenheit möchte ich sagen, dass es davon relativ viele gab.
Als Sie im März in der Ukraine mit Sergej Lawrow sprachen, dem russischen Aussenminister: Was haben Sie dort erreicht?
Wenn Sie sich anschauen, was wir als IKRK heute machen in der Ukraine: Im Juni haben wir zum ersten Mal gefallene Soldaten zwischen den beiden Kriegsparteien ausgetauscht. Wir haben Gefangene besucht, in von Russland und der Ukraine kontrollierten Gebieten. Wir konnten über tausend Vermisstenmeldungen klären, durch den Kontakt mit den russischen und ukrainischen Behörden. Das sind bescheidene Schritte, wenn man das Gesamtproblem anschaut. Aber es sind wichtige Fortschritte, die eben nicht gemacht werden könnten, wenn es diese Brüche im Gespräch nicht gäbe und keine Vertrauensbasis da wäre.
Und doch werden Sie in der Öffentlichkeit häufig verurteilt für Handschläge mit Personen wie Lawrow, Assad oder Putin.
Damit muss man leben. Was die Öffentlichkeit wahrnimmt, ist nicht so wichtig. Unser Ziel ist, das Leben der Betroffenen – seien es Soldaten oder Zivilisten – zu verändern. Solange wir die Anerkennung und das Verständnis dieser Menschen und auch die Legitimation durch die jeweiligen Kriegsparteien haben, reicht das.
Es hat sich gezeigt, dass die Funktion des IKRK-Präsidenten eine Wirkung hat. Das ist, was zählt.
Ich habe Verständnis dafür, dass die Leute Partei ergreifen und Position beziehen möchten. Aber das sind zwei unterschiedliche Arten, auf die Welt zu schauen. Ich habe jetzt zehn Jahre lang die Rolle des neutralen Intermediärs gespielt. Das heisst nicht, dass ich nicht auch ein politischer Mensch bin, der gerne mal etwas klarer oder deutlicher formuliert. Aber hier geht es um Funktionen. Und es hat sich gezeigt, dass die Funktion des IKRK-Präsidenten eine Wirkung hat. Das ist, was zählt.
Aber wenn ich Ihnen zuhöre, ist es viel mehr als eine Funktion. Sie waren mit ganzem Herzen dabei. Wird Ihnen das fehlen?
Bei einer solchen Aufgabe kann man nicht anders, als mit voller Leidenschaft dabei zu sein – sonst geht es nicht. Das können Sie nicht als 8-bis-12-Uhr- und 14-bis-18-Uhr-Job machen. Aus dieser Sicht habe ich es mit grossem Engagement gemacht. Was aber nicht bedeutet, dass das für mich ans IKRK oder die humanitäre Arbeit gebunden ist. Davor war ich ein engagierter Diplomat für die Schweiz. Jetzt war ich zehn Jahre beim IKRK und denke, dass es noch zwei, drei Probleme auf der Welt gibt, für die ich mich auch in einer anderen Funktion wieder engagieren und begeistern kann.
Das Gespräch führte Barbara Lüthi.
Peter Maurer war Gast in der letzten Folge der Club-Sommerserie «Krieg und Frieden». Alle vier Folgen sind online einsehbar.