Natallia Hersche wusste, dass das, was sie tat, gefährlich war. Und doch konnte sie nicht ahnen, wie dieser eine Tag im September 2020 ihr Leben verändern würde.
Wenige Wochen zuvor, als im August 2020 in Belarus Präsidentschaftswahlen stattfanden, gab die schweizerisch-belarussische Doppelbürgerin in Bern ihre Stimme ab, in der Hoffnung, zur Absetzung von Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko beizutragen. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht – und auch jene hunderttausender Belarussinnen und Belarussen. Rund 80 Prozent der Wählenden hätten für Lukaschenko gestimmt, so das offizielle Resultat. Die Opposition sprach umgehend von Wahlbetrug.
Was darauf folgen sollte, war die grösste Protestwelle, die das Land je erlebt hat. An manchen Tagen ging rund eine halbe Million Menschen auf die Strasse. «Die Wahlen waren eine grosse Lüge, die das belarussische Volk schlucken sollte», beschreibt Hersche in der SRF-Sendung «Club» die Stimmung in dieser Zeit. Sie reiste nach Minsk, um sich den Protesten anzuschliessen. Am 19. September wurde sie verhaftet. Im Dezember folgte das Urteil: zwei Jahre und sechs Monate Gefängnis.
Ich habe mich psychisch bereit gemacht, meine ganze Strafe abzusitzen.
«Anfangs hatte ich die Hoffnung, dass meine Strafe verkürzt und ich das Gefängnis bald wieder verlassen würde», erzählt Hersche. Sie habe sich jeweils nur auf die nächsten ein, zwei Monate konzentriert, bewusst nie weiter in die Zukunft geschaut. «Doch nachdem ich bereits ein Jahr im Gefängnis gewesen war, habe ich realisiert: Es kann sein, dass ich die ganze Strafe absitzen muss. Also habe ich mich psychisch dafür bereitgemacht.»
Insgesamt verbrachte Natallia Hersche zehn Monate in Einzelhaft. Gemäss den «Nelson-Mandela-Regeln» der UNO ist Einzelhaft nur in Ausnahmefällen und für eine maximale Dauer von fünfzehn Tagen am Stück zulässig.
Als die schlimmste Zeit bezeichnet Hersche die 46 Tage im sogenannten «Karzer», einer Zelle aus der Zeit der Sowjetunion. «Das war Folter», sagt Hersche im «Club». Einzig ihre Gefängniskleidung und ein Küchentuch durfte sie dort bei sich haben – «kein Kissen, keine Matratze, nichts». Nachts habe es durch die Spalten im Fenster gezogen, sodass sie auf der Stelle rennen musste, um sich warmzuhalten. «Doch diese Wärme reicht nur für fünfzehn, zwanzig Minuten. Danach beginnst du wieder von vorn.»
Im Februar dieses Jahres kam Natallia Hersche überraschend frei. Die diplomatischen Bemühungen der Schweiz hätten sich ausgezahlt, kommentierte Aussenminister Ignazio Cassis auf Twitter. Rund ein Jahr ihrer Haftstrafe blieb ihr erspart. Doch trotz der Euphorie über ihre Freilassung: Hersche musste lernen, Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden.
«Du bist am Leben! Das ist das Wichtigste»
Während ihrer Zeit im Gefängnis sei ihre Wohnung in St. Gallen aufgelöst und geräumt worden: «Meine Wertsachen, mein ganzer Besitz war weg.» Der Verlust habe sie geschmerzt und geärgert. Doch dann, nach nur einer Woche in Freiheit, erfolgte der Angriff Russlands auf die Ukraine. «Mir wurde bewusst: Die Menschen in der Ukraine haben alles verloren. Ihre Häuser wurden bombardiert, ihre Wohnungen vernichtet. Da habe ich mir gesagt: Warum ärgerst du dich? Du bist am Leben! Das ist das Wichtigste.»
Auch wenn Natallia Hersche und die belarussische Opposition ihre politischen Ziele nicht erreicht haben: Umsonst sei ihr Kampf nicht gewesen, sagt sie. «Ich glaube, ich konnte dem belarussischen Volk Hoffnung geben.» Alexander Lukaschenko sei zwar noch immer an der Macht. «Doch ich habe gezeigt: Für Gerechtigkeit kann man kämpfen.»
Natallia Hersche war Gast in der vierten und letzten Folge der «Club»-Sommerserie zum Thema «Krieg und Frieden», die am Dienstag, 9. August ausgestrahlt wurde.