In der ukrainischen Hafenstadt Odessa sind gut 25 Millionen Tonnen Getreide blockiert. Die Speicher sind übervoll mit Weizen, Gerste und Mais für den Nahen Osten, den Maghreb und Afrika. Weil die Lieferungen ausbleiben, explodieren weltweit die Preise.
Im Nahen Osten ist die Situation äusserst angespannt, weiss Corinne Fleischer, Leiterin des UNO-Welternährungsprogramms (WFP) im Nahen Osten. Es sei mit neuen Unruhen zu rechnen.
SRF News: Warum ist der Nahe Osten stärker von der Weizenknappheit wegen Ukraine-Kriegs betroffen als andere Regionen?
Corinne Fleischer: Zuerst einmal wegen der Nähe zum Schwarzen Meer. Es dauert nur zehn Tage, um Weizen aus Russland oder der Ukraine mit dem Schiff in den Nahen Osten zu bringen. Aus Australien oder den USA dauert das hingegen zwei Monate. Dazu kommt, dass der Nahe Osten deutlich stärker von Importen abhängig ist als der Rest der Welt. Die Region spürt die massiv erhöhten Preise deshalb besonders stark.
Wenn wir Leute fragen: ‹Wann haben Sie das letzte Mal Fleisch oder Gemüse gegessen?›, brechen sie in Tränen aus oder sagen: ‹Ich kann mich nicht mehr erinnern›.
Auf dem Weltmarkt gäbe es eigentlich genug Weizen, um den weltweiten Bedarf zu decken. Weshalb trotzdem diese Krise?
Im Moment gibt es genug, ja. Aber es ist eine Frage der Zugänglichkeit. Der Weltmarkt spielt verrückt und deshalb gehen die Preise hoch. Das hat zur Folge, dass sich viele Menschen im Nahen Osten Essen nicht mehr leisten können. In unseren Befragungen zum Hunger sehen wir dramatische Veränderungen. Wenn wir Leute fragen: «Wann haben Sie das letzte Mal Fleisch oder Gemüse gegessen?», brechen sie in Tränen aus oder sagen: «Ich kann mich nicht mehr erinnern». Eine Frau in Syrien hat uns beispielsweise gesagt: «Wenn ich gewusst hätte, was nach dem Krieg kommt, hätte ich gar keine Kinder in die Welt gesetzt.» So dramatisch ist das jetzt.
Sie sprechen es an: Viele Menschen haben gar kein Geld mehr und müssen einen Grossteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.
Ja, in den Ländern, in denen wir tätig sind, geben Menschen im Durchschnitt 50 bis 75 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel aus. Dazu kommt, dass viele Lebensmittel im Nahen Osten subventioniert sind. Diese Subventionen sind aufgrund der erhöhten Preise unter Druck. Zum Teil sind bereits Gas-, Elektrizitäts- oder Öl-Subventionen gefallen. Was noch bleibt, ist subventioniertes Brot, denn Brot ist das wichtigste Nahrungsmittel hier. Aber es ist fraglich, wie lange sich die Regierungen diese Subventionen noch leisten können.
Wie viel Zeit bleibt noch, um eine Hungerkatastrophe in der Region abzuwenden?
Da bleibt keine Zeit mehr. Die Häfen im Schwarzen Meer müssen geöffnet werden. Der Weizen muss wieder exportiert werden können, damit sich die Weltmärkte beruhigen. Und vor allem muss auch wieder Dünger exportiert werden können. Falls das nicht klappt, kommt die Hungerkatastrophe. Dann wird es nächstes Jahr nicht mehr nur ein Problem der Zugänglichkeit sein, sondern es wird zu einer Frage des Vorhandenseins von Nahrungsmitteln.
Wenn die Leute nicht mehr genug zu essen haben, dann haben sie nichts mehr zu verlieren. Die Migration nach Europa wird sich wieder erhöhen.
Steigende Lebensmittelpreise waren einer der Auslöser für die Proteste des Arabischen Frühlings. Müssen wir mit neuen Unruhen rechnen?
Ja, ich denke schon. Nicht nur im Nahen Osten, sondern auch weltweit. Das hat bereits in Sri Lanka oder Indonesien begonnen; im Nahen Osten droht ähnliches. Wenn die Leute nicht mehr genug zu essen haben, haben sie nichts mehr zu verlieren. Wir sind deswegen sehr besorgt. Nicht nur wegen Protesten, sondern auch, weil das die Migration nach Europa wieder erhöhen wird.
Das Gespräch führte Anita Bünter.