Die Amerikanerinnen und Amerikaner wieder zusammenbringen, das gespaltene Land einen: Das ist eines der Hauptziele der Präsidentschaft von Joe Biden. Noch am Abend seiner Wahl vor eineinhalb Jahren erklärte er: «Lasst uns ein geeintes Land sein, ein gestärktes Land, ein geheiltes Land.» Doch seither ist viel passiert. Das Urteil des Obersten Gerichts zum Abtreibungsrecht sorgt seit Wochen immer wieder für Proteste.
Die Stimmung wirkt aufgeheizt. Der kanadische Autor Stephen Marche schliesst sogar einen neuen Bürgerkrieg nicht aus. In seinem Buch «Der nächste Bürgerkrieg» zeichnet er ein düsteres Bild eines Landes, das kurz davor steht, in die Selbstzerfleischung abzurutschen. Für diese These gebe es plausible Gründe, sagt er in einem TV-Interview.
Die USA bringen alles mit, was für einen Bürgerkrieg nötig ist: eine extreme Identifikation mit den Parteien, grosse Ungleichheit, wenig Vertrauen in die Institutionen und eine Zunahme von Gewalt.
Vorsicht, sagen dazu zwei Forscher der Vanderbilt University in Nashville. Die Politologen John Geer und Mary Catherine Sullivan haben einen Index entwickelt, mit dem sich empirisch messen lässt, wie geeint die USA derzeit sind. Anhand von Meinungsumfragen, Protestbewegungen und dem Abstimmungsverhalten der Abgeordneten zeigen sie, wie sich die politische Einheit in den USA seit den 1980er-Jahren entwickelt hat.
Index weist auf Radikalisierung hin
«Von 1981 bis 1994 lag die politische Einheit in den USA im Schnitt bei 68 Prozent. Dann begann ein Abwärtstrend.» Heute betrage der Wert im Schnitt nur noch 54 Prozent, so Sullivan. «Ein grösserer Teil der Bürgerinnen und Bürger bezeichnet sich als ideologisch extrem.»
Früher sagten weniger als 20 Prozent, sie seien extrem liberal oder extrem konservativ. Heute sagt das rund ein Viertel.
Dass das Land heute polarisierter und gespaltener sei, hänge mit der Entstehung des republikanisch geprägten Senders Fox News zusammen, mit den sozialen Medien und mit der Präsidentschaft von Donald Trump, sagt Geer. «Noch immer sehen viele Republikaner Trump als Mittel zum Zweck, um wieder an die Macht zu kommen.» Doch er habe keine verbindende Persönlichkeit. «Seine Politik basiert auf Spaltung.» In vielerlei Hinsicht sei er ein Genie und werde manchmal unterschätzt.
Doch Geer sieht auch Grund zur Hoffnung. Unter Biden habe die politische Einheit wieder leicht zugenommen. Und es gelte ohnehin zu relativieren. «Unsere Daten zeigen: Sogar in den Jahren, in denen wir dachten, unser Land sei besonders geeint, kam der Index nie über 70 Prozent.» Es habe immer Meinungsverschiedenheiten gegeben.
Entscheidend, wer Präsident ist
«Das gehört zu einer Demokratie dazu. Aber wir müssen lernen, besser damit umzugehen.» Zu sagen, die USA stünden kurz vor einem Bürgerkrieg, sei grob übertrieben, fügt Sullivan an. Solches Gerede sei gefährlich und beschwöre Gewalt geradezu herauf. «Es ist einfach, jetzt zu sagen: Wir vertragen uns überhaupt nicht. Unsere politischen Institutionen zerfallen. Aber unsere Daten widersprechen dem.»
Link zum Unity Index
Auch wenn der Extremismus zunehme: «Die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner sind keine Extremisten. Sie vertrauen der Demokratie.» Die Forschenden wollen mit dem Index dazu beitragen, dass die Debatte über politische Einheit faktenbasierter wird. Dafür sei entscheidend, wer im Weissen Haus sitzt, zeigten die Daten. «Wen wir wählen, hat einen grossen Einfluss darauf, wie wir Politik sehen. Wir sollten optimistischer sein, was die Zukunft der US-Demokratie angeht», so Sullivans Fazit.