Jana Tannagaschewa weiss, was es heisst, in Russland gegen den Strom zu schwimmen. «In Russland haben wir mit Diskriminierung und Drohungen zu kämpfen», sagt sie. Sie gehört zum indigenen Volk der Schoren im Südwesten Sibiriens.
Ihre Heimat ist reich an Rohstoffen, doch die Schoren haben wenig davon: Konzerne kaufen das Land auf und vertreiben die Einheimischen. Wer sich dagegen wehrt, gerät unter Druck. So auch Jana Tannagaschewa: Für ihren Aktivismus gegen eine Kohlefirma wurde sie als Lehrerin entlassen und vom russischen Geheimdienst vorgeladen. Auch ihre Kinder seien bedroht worden, erzählt die 37-Jährige. Vor vier Jahren hat sie Russland deswegen verlassen, heute lebt sie in Schweden.
Sibirische Völker werden eingezogen
Seit der russischen Invasion der Ukraine hat sich die Lage der indigenen Völker noch verschlechtert. Sibirische Völker sind von der Mobilmachung für die Armee überdurchschnittlich betroffen, auch die Schoren.
«Die Rekrutierer der russischen Armee kommen in die entlegenen Dörfer. Sie fliegen im Helikopter in die Gebiete, in denen es keine Strassen hat, um die Männer einzuziehen», sagt sie. Wenn in einem Hundert-Seelen-Dorf ein Dutzend Männer eingezogen werde, sei das verheerend, nicht nur für das Dorf, sondern für das gesamte Volk der Schoren, dem nur 12’000 Menschen angehören. Zumal die Mobilisierten in den sicheren Tod geschickt würden, so Tannagaschewa: Einer ihrer Freunde sei mit minimaler Ausbildung und ohne adäquate Kleidung an die Front geschickt worden.
Für Tannagaschewa ist dieses Vorgehen Ausdruck eines modernen russischen Kolonialismus. Die nicht-russischen Völker des Landes würden in die Ukraine geschickt, um für die «russische Welt» zu kämpfen, den von Putin beschworenen «russkij mir». So versorge Russland seine Armee mit Soldaten und halte gleichzeitig die indigenen Völker in Schach. Dies sei eine jahrhundertealte Strategie der Unterdrückung, glaubt Tannagaschewa.
«Die Angst liegt uns im Blut, wir werden mit Angst geboren», drückt das Jana Tannagaschewa aus. «Man hat uns eingeimpft, dass wir minderwertig sind.»
Anfängliche Begeisterung für den Krieg
Zwar fühlen sich auch viele in der indigenen Bevölkerung als Russinnen oder Russen. Viele hätten anfänglich mit Begeisterung auf den russischen Angriff reagiert. Die nationalistische Propaganda greife auch in Sibirien, so Tannagaschewa. Doch sie hat auch festgestellt, dass mit dem fortschreitenden Krieg ein neues Bewusstsein unter den Indigenen Sibiriens heranwächst.
Von der Angst und vom ausbeuterischen russischen Staat müsse man sich befreien, glaubten immer mehr Menschen in Sibirien. «Wir sind es überdrüssig, Moskau mit unseren Ressourcen zu füttern», sagt sie.
In der Tat werden in der vielfältigen russischen Opposition diejenigen Stimmen lauter, die eine Auflösung der russischen Föderation fordern. Die vielen Völker des Landes müssten eigene Staaten bilden dürfen, heisst es. Tannagaschewa mahnt zur Vorsicht. «Davon sind wir noch weit entfernt», sagt sie.
Erst Frieden und Demokratie
Klar ist, dass indigene Unabhängigkeitsbestrebungen noch eine Randerscheinung sind. Tannagaschewa befürchtet zudem, dass eine Aufspaltung Russlands auch bewaffnete Konflikte zwischen den Völkern entfachen könnte. Russland müsse zuerst friedlich und demokratisch werden, bevor der indigene Traum von mehr Selbstbestimmung in Erfüllung gehen könne.