Irgendwie erinnert er an Albert Einstein, mit etwas mehr Glatze. Schüttere, ungekämmte weisse Haare, die Brille sitzt tief. 75 Jahre alt ist John Shipton. Seine Stimme ist so ruhig, so monoton, man muss gut zuhören, um nichts zu verpassen. Selbst, wenn er dem Fragenden verbal ans Schienbein tritt, tönt er wie ein netter Grossvater.
«Ihre Fragen dienen einzig den Leuten und Institutionen, die ein Interesse daran haben, weiter von der Kriminalität dieser Verbrechen abzulenken», schimpft er. Den Blick hat er gesenkt, als ob ihm die Konfrontation peinlich wäre.
Es scheint klar, dass Shipton fast immer umgeben ist von Leuten, die seinen Sohn verehren. Von Journalisten, die den Kollegen als Vorbild sehen, von Menschenrechtlern, die ihn als Märtyrer feiern. Shipton ist jedenfalls keine kritischen Fragen gewöhnt, und er hat wenig Geduld mit jenen, die sie stellen.
Etwa die Frage, ob sein Sohn Julian Assange 2016 mit der Veröffentlichung interner E-Mails der amerikanischen Demokratischen Partei durch die Enthüllungsplattform Wikileaks nicht Donald Trump zum Sieg verholfen habe. Er verdreht die Augen. «Diese Sache ist kalter Kaffee», sagt er. «Die E-Mails haben kriminelle Aktivitäten der Demokraten gezeigt.» Damit sei das Thema vom Tisch.
Es geht Julian nicht sehr gut. Erst die Jahre in der Botschaft und jetzt diese psychologische Folter.
Für ihn vielleicht. Nicht aber für jene, die Assange vor dem Skandal als Ikone progressiven Denkens und freier Meinungsäusserung zelebriert hatten; bevor er die Wahlkampagne der damaligen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton ins Chaos stürzte.
Auch viele von Assanges Anhängern haben ihm das bis heute nicht verziehen. Er sei ein Instrument Wladimir Putins geworden, so der Vorwurf. Die E-Mails waren Wikileaks von russischen Agenten zugespielt worden. Für Shipton ist das kein Thema. Das Ergebnis sei entscheidend: die Offenlegung von Illegalität.
Julian Assange war 2012 in die ecuadorianische Botschaft in London geflohen, nachdem ihn Schweden wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung per internationalem Haftbefehl gesucht hatte. Assange streitet bis heute ab, eine Straftat begangen zu haben.
Vielmehr seien Beschuldigung und Haftbefehl ein Mittel, um ihn in die USA ausliefern zu können. Dort drohen ihm 175 Jahre Haft, vielleicht sogar die Todesstrafe. Der Vorwurf der amerikanischen Regierung: Spionage.
Wikileaks hatte den Zorn Washingtons auf sich gezogen, nachdem es tausende von Seiten einst geheimer Berichte und Dokumente veröffentlicht hatte, die von amerikanischen Militär- und Geheimdiensten erstellt wurden.
Eine der spektakulärsten Enthüllungen von Wikileaks war das Video eines Luftangriffs auf Zivilisten in Irak. Dazu kamen weitere Informationen über mutmassliche Kriegsverbrechen amerikanischer Truppen.
Zellennachbar von Mördern und Terroristen
Sieben Jahre dauerte Assanges selbst verhängtes Asyl in der ecuadorianischen Botschaft. Quito gewährte ihm sogar die Staatsbürgerschaft. Vom Balkon der Botschaft aus rief er seine Anhänger dazu auf, Druck zu machen auf Politiker und Justiz. Nur verlassen konnte Assange das Gebäude in der Innenstadt von London nicht – die britische Polizei stand Tag und Nacht bereit, um ihn zu verhaften.
2018 endeten Geduld und Gastfreundschaft der ecuadorianischen Regierung. Auf Anordnung des neuen Präsidenten Lenin Moreno entzog ihm die Botschaft erst den Internetzugang, dann das Asylrecht. Am 11. April 2019 nahm ihn die britische Polizei fest. Seither harrt Assange in einer Einzelzelle eines britischen Hochsicherheitsgefängnisses aus – 23 Stunden am Tag. Terroristen und Mörder sind seine Nachbarn.
Telefonat aus dem Hochsicherheitstrakt
«Es geht ihm nicht sehr gut», sagt Shipton. «Erst die Jahre in der Botschaft und jetzt diese psychologische Folter.» Seit Jahren versucht der Vater, die australische Regierung dazu zu bringen, seinen Sohn heimzuholen. Doch die enge Partnerschaft mit den USA hindert Canberra, sich in Washington für ihn einzusetzen.
So fährt Shipton in diesen Tagen mit einer Gruppe von Aktivisten durchs Land, um in der australischen Bevölkerung Unterstützung für die Heimkehr zu finden. Um von unten her Druck auf die Regierung zu machen. Auf ein gerechtes Amerika hofft er nicht: «Noch nie hat das auf Spionage spezialisierte Gericht im amerikanischen Bundesstaat Virginia jemanden für unschuldig erklärt.»
Dann klingelt Shiptons Telefon. Er nimmt den Anruf entgegen. Es ist Julian Assange.
«Ein Schandfleck für die Menschheit»
Covid-19 hat sich für die Eingesperrten im Gefängnis als Segen erwiesen. Weil keine Besucher erlaubt sind, dürfen sie häufiger telefonieren. Zehn Minuten jeweils, dann wird die Leitung gekappt. Was hat er mit seinem Sohn besprochen? «Es ist nett von Ihnen, mich zu fragen», meint er. «Aber ich werde es Ihnen nicht sagen.» Wir, die Medien, die Öffentlichkeit, wir sollten uns doch endlich mal auf das konzentrieren, was wichtig sei, herrscht er einen an.
Auf die enormen Verbrechen etwa, die nur durch die Arbeit seines Sohnes zutage gekommen seien. Seit Beginn der Invasionen der Länder im Nahen Osten durch die USA und ihre Verbündeten seien sechs bis sieben Millionen Menschen umgekommen. «Sudan, Jemen, Libyen, Syrien, Irak, Afghanistan – die Liste ist ein Dokument des Teufels».
Der Begriff «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» werde zu leichtfertig verwendet. «Er bedeutet konkret, dass jemand Ihren Vater ermordet hat, Ihre Mutter, Ihren Bruder, Ihre Schwester, Ihre Kinder. Der Pol der Trauer, der über dem Nahen Osten hängt, ist ein Schandfleck für die Menschheit. Er muss korrigiert werden.» Und die Verantwortlichen müssten zur Rechenschaft gezogen werden.
In seinem Heimatland Australien haben prominente Journalisten kritisiert, Julian Assange sei keiner von ihnen. Denn er veröffentliche meist rohe Daten, unredigiert, nicht analysiert, Streubomben sozusagen. Shipton winkt ab: «Dieser Mann hat 26 Auszeichnungen für Journalismus erhalten, unter ihnen den höchsten Journalismuspreis in Australien. Er ist und bleibt ein Journalist – ein Journalist ohne einen Makel der Lüge».
«Geht am Morgen die Sonne auf?»
Ist Assange ein Blutzeuge für Meinungsfreiheit und Transparenz? Eine weitere Frage, für die Shipton wenig Verständnis zeigt. Julian selbst mache sich bestimmt nicht zum Märtyrer. «Er würde lieber heimkommen und mit uns einen Kaffee trinken. Aber das kann er nicht, weil er von anderen in einem kleinen Raum eingesperrt wird. Deshalb muss Ihre Frage lauten: Weshalb tun die Mächtigen das?» Die Antwort sei klar: «Sie lassen ihn leiden, um uns Angst davor zu machen, ähnliches zu tun wie er.»
Auf die Frage, ob er seinen Sohn jemals wieder in Freiheit sehen wird, antwortet der Vater ebenso kryptisch wie überraschend: «Geht am Morgen die Sonne auf?», fragt er rhetorisch. Natürlich werde sein Sohn wieder einmal frei sein. Dabei hatte Shipton eben noch behauptet, er nutze «weder die Werkzeuge der Hoffnung noch die des Optimismus.»