Warum wird der Zugang zu Kaiserschnitten eingeschränkt? «Die offizielle Begründung lautet, dass weniger Kaiserschnitte gut sind für eine gute Geburtenrate in der Türkei», sagt Thomas Seibert, freier Journalist in Istanbul. Frauen würden nach einer natürlichen Geburt schneller wieder schwanger werden können als nach einem Kaiserschnitt. Laut Seibert ist es auch nicht der erste Versuch des Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, die Zahl dieser Eingriffe zu senken. Vielmehr gehe es dem Präsidenten aber um Zugeständnisse an seine konservativen Unterstützer.
Beliebter Eingriff: Kaiserschnitte sind in der Türkei weit verbreitet. Gemäss der Datenplattform World Population Review erfolgten 584 von 1000 Lebendgeburten per chirurgischen Eingriff. Das ist der höchste Wert in Europa. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO geht ab einer Rate von 10 Prozent die Sterblichkeit von Müttern und Kinder bei der Geburt nicht mehr zurück.
Warum sind Kaiserschnitte so beliebt? Laut Journalist Seibert gibt es dafür eine Reihe von Gründen: «Viele Ärzte und auch viele Frauen bevorzugen Kaiserschnitte, weil sie besser planbar sind als eine natürliche Geburt.» Ausserdem würden die türkischen Krankenkassen den Eingriff umstandslos bezahlen. Schliesslich gelte ein Kaiserschnitt in gewissen Kreisen als «chic».
Worum es Erdogan tatsächlich geht: Seibert sieht in der neuen Weisung einen innenpolitischen Schachzug des türkischen Präsidenten. «Er will von seinen Problemen ablenken und seine Anhänger, insbesondere die konservativen, bei der Stange halten», sagt der Journalist. Erdogan würde auch gezielt eher konservative und säkulare Türken gegeneinander ausspielen.
Der Präsident unter Druck: Laut Seibert steht Erdogan an drei Fronten unter Druck. «Das ist erstens die schlechte Wirtschaftslage.» Die Bevölkerung klagt über die hohe Inflation, ausserdem fehlt es an Arbeitsplätzen. Das zweite Problem für den Präsidenten sei die Inhaftierung seines Rivalen Ekrem Imamoglu und die darauffolgende Protestbewegung. «Erdogan hat gehofft, dass diese Proteste irgendwann im Sande verlaufen, aber die Opposition hat es bisher verstanden, den Druck aufrechtzuerhalten», so der Journalist. Drittens verhandelt Erdogan mit den Kurden, Zugeständnisse scheinen denkbar. «Das bringt manche Rechtsnationalisten gegen Erdogan auf», so Seibert. Mit den Kaiserschnitten habe Erdogan ein Thema gefunden, um diesem Druck etwas entgegenzusetzen.
Empörung von Frauenrechtlerinnen und der Opposition: Die Debatte um die Kaiserschnitte hat sich vorletztes Wochenende entfacht, als bei einem grossen Fussballspiel Spieler mit einem Banner aufliefen, das «natürliche Geburten» als «normal» propagierte. Zahlreiche Menschen in den sozialen Medien, Politiker und Frauenorganisationen empörten sich über den Auftritt. In den Beiträgen hiess es, die Kampagne sei einseitig, sexistisch und unwissenschaftlich. Seibert sagt, man müsse die Wirkung des Kaiserschnitt-Verbotes erst einmal abwarten. Frühere Massnahmen der türkischen Regierung mit demselben Ziel hätten ihre Wirkung auch nicht entfaltet. «Möglicherweise ist jetzt die Aufregung nur gross, bis Erdogan ein anderes Thema findet, das ihm innenpolitisch in den Kram passt», sagt der Journalist.