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Innenpolitischer Schachzug Türkische Regierung schränkt Zugang zu Kaiserschnitten ein

In der Türkei sollen neu in Privatkliniken keine geplanten Kaiserschnitte mehr durchgeführt werden. Künftig sind diese nur noch vorgesehen, wenn sie medizinisch notwendig sind. Ein Überblick.

Warum wird der Zugang zu Kaiserschnitten eingeschränkt? «Die offizielle Begründung lautet, dass weniger Kaiserschnitte gut sind für eine gute Geburtenrate in der Türkei», sagt Thomas Seibert, freier Journalist in Istanbul. Frauen würden nach einer natürlichen Geburt schneller wieder schwanger werden können als nach einem Kaiserschnitt. Laut Seibert ist es auch nicht der erste Versuch des Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, die Zahl dieser Eingriffe zu senken. Vielmehr gehe es dem Präsidenten aber um Zugeständnisse an seine konservativen Unterstützer.

Einschränkung unter dem Deckmantel der Familienpolitik

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Erdogan hat 2025 zum «Jahr der Familie» erklärt. Neben dem Kampf gegen LGBTQ ist unter anderem auch das Antreiben der Geburtenrate erklärtes Ziel. Die Einschränkungen bei den Kaiserschnitten würden sehr gut zu dieser Kampagne passen, sagt Thomas Seibert.

«Neben Aufklärungskampagnen und Fortbildungsprogrammen hat die Regierung vor allen Dingen finanzielle Anreize auf den Weg gebracht», erklärt der Journalist. Die Regierung unterstütze etwa junge, verheiratete Paare mit zinslosen Krediten, damit diese eine eigene Familie gründen können. Dann gebe es auch Prämien für junge Familien mit Kindern unter fünf Jahren.

Beliebter Eingriff: Kaiserschnitte sind in der Türkei weit verbreitet. Gemäss der Datenplattform World Population Review erfolgten 584 von 1000 Lebendgeburten per chirurgischen Eingriff. Das ist der höchste Wert in Europa. Laut der Weltgesundheits­organisation WHO geht ab einer Rate von 10 Prozent die Sterblichkeit von Müttern und Kinder bei der Geburt nicht mehr zurück.

Warum sind Kaiserschnitte so beliebt? Laut Journalist Seibert gibt es dafür eine Reihe von Gründen: «Viele Ärzte und auch viele Frauen bevorzugen Kaiserschnitte, weil sie besser planbar sind als eine natürliche Geburt.» Ausserdem würden die türkischen Krankenkassen den Eingriff umstandslos bezahlen. Schliesslich gelte ein Kaiserschnitt in gewissen Kreisen als «chic».

Worum es Erdogan tatsächlich geht: Seibert sieht in der neuen Weisung einen innenpolitischen Schachzug des türkischen Präsidenten. «Er will von seinen Problemen ablenken und seine Anhänger, insbesondere die konservativen, bei der Stange halten», sagt der Journalist. Erdogan würde auch gezielt eher konservative und säkulare Türken gegeneinander ausspielen.

Mann im Anzug hält Mikrofon auf Bühne.
Legende: Immer wieder kommt Erdogan bei seinen Reden auf die «traditionellen türkischen Familien» zu sprechen. REUTERS / Cagla Gurdogan

Der Präsident unter Druck: Laut Seibert steht Erdogan an drei Fronten unter Druck. «Das ist erstens die schlechte Wirtschaftslage.» Die Bevölkerung klagt über die hohe Inflation, ausserdem fehlt es an Arbeitsplätzen. Das zweite Problem für den Präsidenten sei die Inhaftierung seines Rivalen Ekrem Imamoglu und die darauffolgende Protestbewegung. «Erdogan hat gehofft, dass diese Proteste irgendwann im Sande verlaufen, aber die Opposition hat es bisher verstanden, den Druck aufrechtzuerhalten», so der Journalist. Drittens verhandelt Erdogan mit den Kurden, Zugeständnisse scheinen denkbar. «Das bringt manche Rechtsnationalisten gegen Erdogan auf», so Seibert. Mit den Kaiserschnitten habe Erdogan ein Thema gefunden, um diesem Druck etwas entgegenzusetzen.

Empörung von Frauenrechtlerinnen und der Opposition: Die Debatte um die Kaiserschnitte hat sich vorletztes Wochenende entfacht, als bei einem grossen Fussballspiel Spieler mit einem Banner aufliefen, das «natürliche Geburten» als «normal» propagierte. Zahlreiche Menschen in den sozialen Medien, Politiker und Frauenorganisationen empörten sich über den Auftritt. In den Beiträgen hiess es, die Kampagne sei einseitig, sexistisch und unwissenschaftlich. Seibert sagt, man müsse die Wirkung des Kaiserschnitt-Verbotes erst einmal abwarten. Frühere Massnahmen der türkischen Regierung mit demselben Ziel hätten ihre Wirkung auch nicht entfaltet. «Möglicherweise ist jetzt die Aufregung nur gross, bis Erdogan ein anderes Thema findet, das ihm innenpolitisch in den Kram passt», sagt der Journalist.

SRF 4 News, 22.4.2025, 16:12 Uhr ; 

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