Vor dem fünften Jahrestag der arabischen Aufstände in Ägypten hat Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi mehr Weitsicht bei der Entwicklung einer Demokratie verlangt. Eine solche reife nicht über Nacht. «Es ist vielmehr ein sich steigernder und fortlaufender Prozess», sagte Al-Sisi in einer Fernsehansprache am Sonntag.
Tahrir-Platz wie ausgestorben
Seine Regierung arbeite daran, die «ideale Balance zwischen Rechten und Freiheiten» herzustellen. Angesichts der anhaltenden Menschenrechtsverletzungen am Nil eine zumindest für das kritische Ausland gewagte Einschätzung.
Die Bilder des heutigen fünften Jahrestages der ägyptischen Revolution unterstreichen eher das Gegenteil: mit der Freiheit nimmt es die Regierung von Staatspräsident Abdel Fattah al-Sisi nicht allzu genau.
Von den Aufständischen des Arabischen Frühlings ist kaum jemand zu sehen. Nur die Unterstützer der autoritären Regierung demonstrieren. Ein paar Hundert Personen mit Fahnen und Bildern Al-Sisis. Pro-Regime-Sprechchöre hallten über den Platz.
Für SRF-Korrespondent Pascal Weber ist dies nicht weiter verwunderlich. «Die Aktivisten von damals sind mundtot gemacht worden», sagt Weber. Entweder seien sind im Gefängnis oder ins Ausland geflüchtet.
Der Grund für das Fehlen grosser Proteste ist augenfällig: Tausende Razzien im Vorfeld des Jahrestages sollten Demonstrationen unmöglich machen. Neben vielen Polizisten und gepanzerten Einsatzfahrzeugen sollten zusätzliche Kontrollpunkte nicht gewünschte Demonstrationen oder Terroranschläge verhindern.
In Alexandria, der zweitgrössten Stadt Ägyptens, gab es nach Angaben der staatlichen Zeitung Al-Ahram dennoch kleine Proteste von Islamisten.
Demokratie in weite Ferne gerückt?
Weber kann die zur Schau gestellte Zuversicht von Ägyptens Regierung nicht teilen. Es sei ihm nicht klar, wie Al-Sisi Ägypten so in eine neue Zukunft führen wolle.
«Die Hälfte der Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt», sagt Weber in der «Tagesschau». Diese Hälfte werde von Al-Sisi beiseitegeschoben. «Dazu kommt, dass sich die Fronten in der Gesellschaft seit Al-Sisi total verhärtet haben.»
Ägyptens Schlaufe von Regime zu Regime
In der Tat ist von der Aufbruchsstimmung von damals nicht viel übrig geblieben. Vor fünf Jahren hatten sich Millionen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz versammelt, um gegen Staatschef Husni Mubarak zu protestieren. Der langjährige Machthaber dankte schliesslich zwei Wochen nach Beginn des Aufstandes ab.
Im Juni 2012 wurde der Muslimbruder Mohammed Mursi zum Präsidenten gewählt, ein Jahr später aber vom damaligen Armeechef Al-Sisi gestürzt. Dieser regiert Ägypten seither mit harter Hand. Mehr als 1400 Pro-Mursi-Demonstranten sind getötet worden. Zehntausende Muslimbrüder wurden inhaftiert, hunderte zum Tode verurteilt, unter ihnen auch Mursi selbst.
«Die Ägypter müssen dabei zusehen, wie ihr Land sich wieder in einen Polizeistaat entwickelt», erklärte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Eine Einschätzung, die Weber nicht so dezidiert teilt. Denn diese Tage damals hat die ägyptische Gesellschaft auch als Ganzes verändert, ist Weber überzeugt. «Und diese Veränderungen sind nicht einfach wieder rückgängig zu machen.»
Die Frage sei vielmehr, so Weber, welche Ansicht sich am Ende durchsetzen werde: die liberale oder die islamistische.