Die Uhr stoppte gestern Nachmittag Ortszeit in Boston. Sie zeigte: elfeinhalb Jahre. Elfeinhalb Jahre ohne Anschläge mit Todesopfern in den USA.
Beim Boston-Marathon kamen infolge von zwei Bombenanschlägen mindestens drei Menschen ums Leben. Wer hinter dem Angriff steckt und welche Motive den oder die Täter angetrieben haben, ist Gegenstand der Ermittlungen und momentan völlig unklar.
Klar ist allerdings, dass sich seit den vom Terrornetzwerk al-Qaida organisierten und durchgeführten Terroranschlägen am 11. September 2001 vieles in- und ausserhalb der USA verändert hat.
Al-Qaida attackiert Amerika
Die Amerikaner kannten bereits vor diesen Anschlägen den Terrorismus. Dieser visierte allerdings vor allem militärische oder andere staatliche Ziele an. Im Jahr 1998 liessen Mitglieder der al-Qaida Autobomben vor den amerikanischen Botschaften im kenianischen Nairobi und im tansanischen Regierungssitz Daressalam explodieren. 223 Menschen wurden in den Tod gerissen.
Im Jahr 2000 starben bei einem Bombenanschlag auf den Zerstörer USS Cole vor der Küste Jemens 15 US-Soldaten. Auch diese Attacke trug die Handschrift von Osama bin Laden.
Kein Phänomen ausserhalb der Grenzen
Mit 09/11 ist der Terror jedoch ins Landesinnere der Vereinigten Staaten gekehrt. Und: Die Urheber der Anschläge visierten mit den Zwillingstürmen in New York «weiche Ziele» an, forderten zivile Opfer.
Dieses Trauma hat die Amerikaner – und auch die US-Behörden – aufgerüttelt. Fredy Gsteiger, Sicherheitsexperte von Radio SRF, sagt: «Früher haben die Geheimdienste und Ermittlungsbehörden die sicherheitsrelevanten Informationen gehortet. Heute werden sie geteilt.» Man könne hier von einer neuen Denkweise sprechen. Die Behörden sind besser vernetzt und vorbereitet. Sie sind wachsamer und überwachen mehr.
Von diesem neuen Ansatz haben auch andere Länder profitiert. Grenzübergreifende Organisationen wie Interpol und Europol sind zu bedeutenden Akteuren im Kampf gegen den Terrorismus aufgestiegen.
Auf den Krieg folgt der Kampf
Zudem verschieben die Amerikaner den Fokus vom Krieg gegen den Terror langsam zum Kampf gegen den Terror. Das US-Militär hat sich aus dem Irak zurückgezogen. Der Abzug aus Afghanistan soll bis Ende 2014 abgeschlossen werden. Fraglich bleiben allerdings die unter George W. Bush lancierten und unter Barack Obama massiv gesteigerten Angriffe mit unbemannten Flugkörpern. Das Militär fliegt mit Drohnen Angriffe auf mutmassliche Terroristen in Pakistan, Afghanistan und Somalia.
Selbst der Auslandgeheimdienst CIA unterhält einen eigenen Drohnenstützpunkt und führt Operationen in Jemen aus. Eine heikle Entwicklung in einem rechtlichen und ethischen Graubereich, gegen die sich nicht nur im Ausland, sondern auch zunehmend in den USA selbst Widerstand abzeichnet.
Die Polizei einbinden
Der SRF-Sicherheitsexperte Fredy Gsteiger sagt, die Amerikaner hätten eingesehen, dass der rein militärische Weg gegen den Terrorismus nicht nachhaltig sei. Sie müssten vermehrt die Polizei in den Kampf einbinden. «Das bedeutet ganz unspektakuläre Alltagsarbeit von Polizisten. Sie sollen wissen, was im Quartier, in der Moschee, in der Kneipe der Rechtsradikalen läuft; und diese Signale weitergeben.»
Mit den neuen, ergiebigen und grenzüberschreitenden Kooperationen stossen die Behörden allerdings an praktische Grenzen. Die Behörden überwachen Telefone, Computer und verfügen über Videomaterial. Daraus ergeben sich Unmengen von Daten. «Es ist völlig unmöglich, jeder Spur nachzugehen», sagt Gsteiger.
Machtlos gegen «Spinner»
Ausserdem richten die USA die Anti-Terrorstrategie nur gegen die organisierte und koordinierte Terrorszene. Die Terroristen sind vernetzt; sie müssen miteinander kommunizieren. In diese Schnittstellen können die Geheimdienste und Polizeibehörden eindringen.
Doch wer nicht auf diesen Kanälen kommuniziert, kann kaum überwacht werden. Deswegen seien die Sicherheitsorgane gegen Einzeltäter oder Spinner, die in ihrer Garage eine Bombe nach einer Internetanleitung bauen würden, machtlos. Gsteiger sagt: «Es ist schlicht unmöglich, alle Veranstaltungen mit vielen Menschen wie Sportevents oder Wochenmärkte abzusichern.»