Nicht ohne das Parlament – das hat das Londoner Obergericht heute entschieden. Die britische Regierung darf ein EU-Austrittsgesuch nicht einreichen, ohne dass vorher die Abgeordneten zugestimmt haben. Und die wollen mitreden wohin die Reise geht, wie diverse Volksvertreter bereits angekündigt haben.
Martin Alioth, Korrespondent von SRF in Grossbritannien, ordnet den heutigen Gerichtsentscheid ein – und sagt, ob die Parlamentarier tatsächlich auf Konfrontationskurs gehen werden.
SRF News: Wie stark kann das Parlament mitreden?
Martin Alioth: Das hängt von der gewählten parlamentarischen Prozedur ab. Wir wissen inzwischen, dass es ein richtiges Gesetz sein soll – ein «Act of Parliament». Das kann ein Dreizeiler sein; oder aber ein richtiges ausführliches Gesetz, bei dem um jede Zeile gerungen wird. Mit entsprechendem Zeitaufwand.
Dass der Brexit-Entscheid an sich umgestossen werden könnte, ist aber ausgeschlossen?
Ausgeschlossen ist dieser Tage nichts mehr in der britischen Politik. Aber die Unterhausabgeordneten – die meisten jedenfalls – wollen ja wieder gewählt werden. Selbst in vielen Labour-Wahlkreisen wurde für den Brexit gestimmt. Das Unterhaus wird also den Austritt nicht verhindern wollen. Im ungewählten Oberhaus ist das anders. Aber dessen Widerstand hätte schlimmstenfalls aufschiebende Wirkung.
Könnte am Ende dieser Debatte nicht ein Etikettenschwindel heraus kommen – ein Brexit, der dem Anliegen, die Personenfreizügigkeit abzuschaffen, nicht Rechnung trägt?
Das ist theoretisch denkbar. Aber ich glaube nicht, dass dies mit dieser Regierung geschehen wird – denn sie hat es sich auf die Fahne geschrieben, die Personenfreizügigkeit abzuschaffen. Dass diese in der jetzigen Form nicht überleben soll, ist das Einzige, was wir bislang wissen. Stellt sich das Parlament dagegen, würde Theresa May wohl Neuwahlen erzwingen. Das ist eine sehr komplizierte Prozedur, weil zwei Drittel des Parlaments zustimmen müssen. Aber wenn der Premierministerin das gelingt, ist anschliessend alles möglich.
Es kann perverserweise sein, dass im Vereinigten Königreich neue Europa-Parlamentarier gewählt werden müssen.
Regierungschefin May fürchtet, in den Verhandlungen mit der EU geschwächt zu werden, wenn sie die britische Position en détail im Parlament verhandeln muss. Das klingt einleuchtend.
Das gibt auch die Opposition zu, zum Teil finden sich darunter ja auch erfahrene Minister. Aber sie will die groben Ziele des Brexit hören und deren Hierarchie gegebenenfalls beeinflussen Es ist also auch im Fall des erwähnten Dreizeilers denkbar, dass die Opposition einem derart wenig aussagekräftigen Gesetz zustimmt. Vorher könnte sie die Regierung aber als Bedingung für ihre Zustimmung zwingen, dem Parlament ein Weissbuch oder zumindest ein Memorandum vorzulegen, über das diskutiert wird. Dort sollen entsprechende Prioritäten enthalten sein.
May wollte vorwärts machen: Ende März das Austrittsgesuch einreichen, Anfang 2019 aus der EU austreten. Ist dieser Fahrplan noch realistisch?
Er ist nach den heutigen Ereignissen nicht ganz ausgeschlossen. Wenn May, wie ich erwarte, im Dezember auch im Supreme Court verliert, kann sie anschliessend versuchen, den erwähnten Dreizeiler vorzulegen. Das würde natürlich reichen – es sei denn, die Lords legen sich quer und verschieben das Ganze um ein Jahr. Dann hätten wir ein Szenario, wo das Vereinigte Königreich 2019 perverserweise neue Europa-Parlamentarier wählen müsste. Obwohl es schon durch die Tür geht, um aus der EU auszutreten.
Das Gespräch führte Roman Fillinger.