Mehr als 4000 Menschen hat der Konflikt in der Ostukraine bereits das Leben gekostet. Seinen Anfang nahm er vor einem Jahr – mit den Maidan-Protesten in Kiew. Zur Erinnerung daran legte Präsident Poroschenko bei strahlendem Sonnenschein an einem Mahnmal unweit des Unabhängigkeitsplatzes (Maidan) einen Kranz nieder.
Angehörige der Opfer demonstrieren
Wütende Angehörige getöteter Demonstranten forderten lautstark Aufklärung der Gewalt bei den Kundgebungen vor allem im Frühjahr. «Schande» und «Poroschenko, wo sind die Mörder?», riefen aufgebrachte Zuschauer an der Gedenkzeremonie. An dieser nahmen auch Ministerpräsident Arseni Jazenjuk und US-Vizepräsident Joe Biden teil.
Laut Kyril Savin, Leiter des Kiewer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, ist die Stimmung in der ukrainischen Hauptstadt ambivalent. Zwar gebe es nur sehr wenige Menschen, die die sogenannte zweite Revolution vom vergangenen Jahr bedauern. «Viele haben aber das Gefühl, dass sich seither wenig veränderte», so Savin. Zwar seien neue Politiker wie Poroschenko an der Macht. Für die Ukrainer gehörten diese aber ebenso zur politischen Klasse wie ihre Vorgänger. Nur wenige Gesichter seien wirklich neu.
Angst vor erneuter Revolution
«Der Kampf gegen Korruption und für mehr Transparenz und direkte Demokratie blieben bisher Lippenbekenntnisse», erklärt Savin. In der Bevölkerung herrsche deshalb das Gefühl, dass eine dritte Revolution vor der Tür stehe, die noch blutiger werden könnte als die letzte. «Davor haben viele Angst.»
Zudem durchlebe die Ukraine derzeit die schwerste Zeit seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991. So sei einerseits völlig unsicher, ob der Krieg im Osten des Landes weiter eskaliere. Andererseits sei die Wirtschaftslage katastrophal: «Die Nationalwährung wurde in den letzten zwölf Monaten um 100 Prozent abgewertet, die Preise und die Arbeitslosenzahlen steigen, Gehälter wurden eingefroren», erklärt Savin.
Auf Koalitionsvertrag verständigt
Poroschenko kündigte an, alle bei den Maidan-Protesten getöteten Menschen als «Helden der Ukraine» zu ehren. Am 21. November 2013 hatte die damalige ukrainische Führung ihren pro-europäischen Kurs auf Eis gelegt und sich stärker Russland zugewandt. Dies löste Grossdemonstrationen aus, bei denen zwischen Dezember 2013 und Februar 2014 mehr als 100 Menschen getötet wurden.
Pünktlich zum Jahrestag einigten sich die pro-europäischen Sieger der Parlamentswahl von Ende Oktober auf einen Koalitionsvertrag. Das Dokument solle an der ersten Sitzung der Obersten Rada am kommenden Donnerstag unterschrieben werden, teilte Poroschenkos Partei mit. Fünf pro-westliche Kräfte hätten dem Text zugestimmt, darunter auch die neu gegründete Volksfront von Jazenjuk.
Russland finanziert abtrünnige Regionen
Im Osten des wirtschaftlich schwer angeschlagenen Landes tobt seit Monaten ein Konflikt mit pro-russischen Separatisten. Die von Letzteren ausgerufenen Volksrepubliken in Donezk und Lugansk werden laut einem Rebellen-Funktionär stark von Russland finanziert.
Russland zahle etwa die Kosten der städtischen Dienste, des Nahverkehrs und der Schulen. Auch Renten- und Sozialleistungen würden aus Russland geleistet. Die Verwaltung in Donezk könne nur etwa 20 Prozent des Finanzbedarfs aus eigenen Einnahmen decken.
Die ukrainische Regierung hatte nach den nicht anerkannten Wahlen in den Separatistengebieten Anfang November alle Zahlungen in die von den Milizen kontrollierten Gebiete eingestellt. Die Ukraine und der Westen werfen Russland vor, die Separatisten auch mit Soldaten und Waffen zu unterstützen. Die Führung in Moskau bestreitet das.