SRF News: Was bedeutet es für die spanische Politik, wenn die zwei grossen Parteien nicht mehr alleine regieren können?
Walther L. Bernecker: Es bedeutet vor allem, dass das parteipolitische Spektrum sich definitiv verändert hat. Dieses imperfekte Zweiparteiensystem, das fast 40 Jahre bestanden hat, ist zu Ende. Es sind zwei neue Parteien hervorgekommen. Diese Parteien haben sich innerhalb kürzester Zeit etabliert und es sieht vorerst nicht so aus, dass man zum alten Zweiparteiensystem zurückkommen würde.
Als Folge davon wird es erstens keine absoluten Mehrheiten mehr geben und zweitens wird die Koalitionsbildung sehr viel schwieriger. Es ist jedoch fraglich, ob es überhaupt zu einer Koalitionsbildung kommen wird, denn in Spanien ist dies aufgrund des bisherigen Wahlsystems unüblich gewesen. Es hat in der spanischen Demokratie noch nie eine Koalition gegeben, sondern die Mehrheitspartei hat sich immer von einer der Minderheitsparteien dulden lassen.
Wie war es denn überhaupt möglich, dass sich Sozialisten und Konservative jahrelang die Macht teilen konnten?
Das hat sich aus dem friedlichen Übergang von der Diktatur zur Demokratie in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre ergeben. Damals konnte Adolfo Suarez eine Mitte-rechts-Partei aus dem alten Regime heraus und aus Reformern der Oppositionspartei schmieden, die sehr breit angelegt war und sich dann im Laufe der Achtzigerjahre zu der konservativen Partei entwickelt hat. Als grosse Alternative präsentierten sich die Sozialisten. Man darf nicht vergessen, dass die Sozialisten damals in der Lage waren, das gesamte Spektrum von der Mitte bis weit nach links zu umfassen, so dass eigentlich die gesamte Breite mit diesen beiden Parteien abgedeckt war.
Die Entstehung der beiden neuen Parteien erklärt sich sowohl aus der enormen Wirtschaftskrise als auch durch die nicht endenden Korruptionsfälle der beiden grossen Parteien.
Das konnte sich halten, so lange die Situation überschaubar war, also so lange es keine grossen Verwerfungen vor allem im ökonomischen Bereich gab. Die Entstehung der beiden neuen Parteien, die jetzt im Parlament vertreten sind, erklärt sich aus der enormen Wirtschaftskrise, die seit 2007 das Land erfasst hat. Dazu kommen auch die nicht endenden Korruptionsfälle der beiden grossen Parteien und die enorme Enttäuschung sehr vieler Wähler über diese.
Bedeutet der Ausgang dieser Wahlen eine grosse Zäsur wie der Übergang von der Franco-Diktatur zur Demokratie?
Ja, es ist eine grosse Zäsur. Der Übergang von der Diktatur zur Demokratie war ein Systembruch in der Angelegenheit – nicht in der Form. Von dem was heute vor sich geht, kann man nicht sagen, dass es ein Neubeginn der Demokratie ist. Aber es bedeutet, dass sehr viele Spanier mit dem Funktionieren ihrer Demokratie derart unzufrieden sind und die Schuld vor allem den beiden etablierten Parteien geben. Deswegen wollen sie einen Neuanfang mit neuen, unverbrauchten Parteien auf der linken Seite wie auf der rechten Mitte machen. Man kann von einem Neuanfang sprechen, der eine Art Regeneration der Demokratie ohne Korruption mit mehr Transparenz, mehr Durchsichtigkeit und mehr Offenheit darstellt.
Ist mit den Wahlen vom Sonntag das Zweiparteiensystem in Spanien definitiv Geschichte?
Es ist zumindest vorübergehend Geschichte. Vieles spricht aber dafür, dass es definitiv Geschichte ist. Die Probleme, die dazu geführt haben, dass das Zweiparteiensystem abgestraft wurde, bleiben bestehen. Die wirtschaftlichen, moralischen und strukturellen Probleme, mit denen Spanien in den letzten Jahren zu kämpfen hatte, werden zu einem nicht geringen Teil auf das Zweiparteiensystem zurückgeführt. Die Spanier wollen aber Alternativen zu diesen beiden Parteien. Deshalb kann man wahrscheinlich sagen, dass das Zweiparteiensystem in Spanien Geschichte ist.
Das Gespräch führte Roger Aebli.