SRF News: Wie sieht die politische Ausgangslage in Grossbritannien zu Beginn des Wahlkampfes aus?
Martin Alioth: Die Favoriten im Rennen sind – wie seit Jahrzehnten – die Konservativen und die Labour-Partei. Neu gibt es neben den beiden Grossparteien aber zusätzliche Mitspieler. Die Konservativen und Labour kamen zusammen einstmals auf bis zu 90 Prozent der Stimmen. Nun dürften ihnen noch etwa 60 Prozent zufallen. Das verändert die Ausgangslage, da das Resultat unter dem geltenden Majorzsystem viel unsicherer wird.
Eine dieser kleinen Parteien, die eine entscheidende Rolle spielen könnte, ist die rechte Protestpartei Ukip. Sie will, dass Grossbritannien aus der EU austritt. Bei den Kommunalwahlen konnte die Ukip bereits beachtliche Teilerfolge feiern. Ist das auch bei der nationalen Wahl zu erwarten?
Nicht im Sinne von Sitzgewinnen. Ukip ist vielmehr die Spielverderberin, die den Favoriten grosse Stimmenblöcke wegnehmen will, ohne den Sitz dann unbedingt selber zu gewinnen. Das könnte in gewissen Wahlkreisen zu etwas perversen Resultaten führen, in denen ein lachender Dritter als Sieger hervorgeht.
Ukip ist die Spielverderberin, die den Favoriten grosse Stimmenblöcke wegnehmen will.
Gespannt darf man auch auf das Abschneiden der schottischen Nationalisten sein. Was traut man ihnen zu, bei der ersten Wahl nach der gescheiterten Unabhängigkeitabstimmung?
Sehr viel. Sie werden als einzige unter den Protestparteien mit einer grossen Fraktion ins neue Parlament einziehen. Man rechnet mit 40 bis 50 Sitzen vor allem auf Kosten von Labour in Schottland. Sie gelten deshalb auch am ehesten als Mehrheitsbeschafferin bei einer Regierungsbildung.
Wie entscheidend wird bei diesen Wahlen die britische Wirtschaftslage und deren Entwicklung sein?
Die britische Wirtschaftslage wird im Zentrum des Wahlkampfes stehen.
In jedem Wahlkampf wird die Wirtschaftslage im Zentrum stehen. Die Konservativen haben nach fünf Jahren Regierungszeit einen grossen Ausgangsvorteil, ihnen wird eine höhere Wirtschaftskompetenz zugebilligt. Sie warnen davor, Labour werde alles wieder zunichte machen. Labour seinerseits fordert einen Abbau der Ungleichheit in der britischen Gesellschaft. Das zunehmende Einkommensgefälle müsse eingeebnet werden. Dabei vernachlässigt die Partei, dass das britische Haushaltsdefizit mit fünf Prozent immer noch höher ist als das in Griechenland, in Frankreich oder in Italien. Glaubwürdige Rezepte für die Eliminierung dieses Defizits gibt es von keiner Partei.
Auch das Verhältnis Grossbritanniens zur EU und die Einwanderung dürften Wahlthemen sein.
Mit Blick auf das Thema Immigration schlagen die etablierten Parteien mehr oder weniger drakonische Massnahmen gegen den Missbrauch des britischen Wohlfahrtssystems durch Einwanderer vor. Aufgrund der Personenfreizügigkeit können sie aber die Einwanderung von EU-Bürgern nicht kontrollieren. Hier ist Ukip die einzige Partei, die durch ihren Wunsch nach einem sofortigen EU-Austritt ein Rezept vorzulegen hat: Sie will die Einwanderung nach australischem Vorbild kontingentieren. Das wird die etablierten Parteien Stimmen kosten.
Premierminister David Cameron hat versprochen, es werde eine Abstimmung über den EU-Austritt geben, sollte er eine neue Regierung bilden können. Inwiefern beeinflusst diese Ankündigung den Wahlkampf?
Die Konservativen versuchen damit, potentielle Ukip-Wähler zu ködern. Sie sagen, sie seien die einzigen, die nicht nur ein EU-Referendum versprechen, sondern es auch durchführen könnten. Ich habe aber bisher noch wenig Anzeichen dafür gespürt, dass das ein zentrales Wahlkampfthema werden wird. Ich halte die Chancen für gering, dass Cameron eine Mehrheitsregierung wird bilden können, die einem solchen Programm folgt.
Das Gespräch führte Daniel Eisner.