SRF News: Brigitte Zingg, Sie sind zurzeit in Kiew. Dort war es vor einem Jahr auf dem Maidan zu den tödlichen Schüssen gekommen. 100 Menschen starben. Was passiert auf dem Unabhängigkeitsplatz an diesem Jahrestag?
Brigitte Zingg: Für viele Ukrainer ist es ein Tag der Trauer. Es geht aber nicht nur um die hundert erschossenen Demonstranten und Polizisten von damals. Der Gedenktag gilt auch den 5000 Menschen, die in diesem Krieg bereits gestorben sind. Für sie alle werden Blumen niedergelegt. In allen grösseren Städten der Ukraine gibt es Liturgien auf Ukrainisch und Russisch. Hier in Kiew wird erwartet, dass Präsident Petro Poroschenko auf dem Unabhängigkeitsplatz zu den Angehörigen spricht.
Die Proteste hatten zur Flucht des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch geführt. Die pro-europäische Führung um Poroschenko kam an die Macht. Ist vom Revolutionsgeist von damals noch etwas zu spüren oder überdeckt der Krieg in der Ostukraine alles?
Es ist ganz klar der Krieg, der die Ukrainer beschäftigt. In allen Lagern und Regionen hört man, dass er aufhören muss – abgesehen von den Radikalen, die meinen, dieser Krieg müsse bis zum bitteren Ende geführt werden. Der Krieg im Osten des Landes hat die Bevölkerung zusammengeschweisst. Die Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Krim und aus dem Kriegsgebiet im Donbass ist riesig. Es spielt plötzlich keine Rolle mehr, ob diese kulturell eher russlandorientiert oder doch europäisch-ukrainisch orientiert sind. Man hilft einander.
In allen Lagern und Regionen hört man, dass der Krieg aufhören muss.
Der Revolutionsgeist wird nicht nur vom Krieg, sondern auch von der katastrophalen Wirtschaftslage übertüncht: Währungszerfall, Staatsbankrott, Inflation. Für viele Menschen hier ist das Leben unerhört teuer geworden. Ihre sowieso schon schlechte wirtschaftliche und soziale Lage hat sich in den letzten Monaten drastisch verschlimmert.
Noch immer ist unklar, wer damals genau geschossen hat. Die Rede ist immer wieder von Scharfschützen, die nicht zur Spezialeinheit gehörten. Warum ist eine Aufklärung der Vorfälle so schwierig?
Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Gerade weil eben auch aus den Reihen der Demonstranten selber geschossen wurde, vermutet man, dass regierungsnahe Kreise eine Untersuchung verhindern wollen. Auch die Justizbehörden torpedieren die Untersuchungen offenbar. Sie gehören grösstenteils noch zu den Beamten des alten Regimes unter dem geflüchteten Präsidenten Janukowitsch. Man sagt ihnen nach, sie liessen sich von seinen damaligen Spezialeinheiten bezahlen, um Beweise verschwinden zu lassen. Die einzigen, die sich wirklich an einer Aufklärung interessiert zeigen, sind ukrainische Journalisten hier in Kiew. Sie recherchieren und hoffen auf die Untersuchung.
Wie wichtig wäre es denn für die Menschen in Kiew, dass es echte Aufklärung gibt?
Das Interesse ist eher gering. Viele sagen, dass ihre Kinder sowieso tot seien. Zu erfahren, wer sie erschossen habe, mache sie auch nicht wieder lebendig. Wie gesagt, verlangen aber Journalisten und auch die Menschen, die gegen Korruption und für mehr Transparenz auf dem Unabhängigkeitsplatz ausgeharrt hatten, eine lückenlose Aufklärung der Vorgänge.