Fast die Hälfte der Stimmen vereinigt die AKP in der Türkei auf sich. Kaum ein Land auf dem europäischen Kontinent verfügt über derart klare Machtverhältnisse. Und kaum eines ist derart gespalten. Der Erdrutschsieg der islamisch-konservativen Erdogan-Partei ist ein Niederschlag für die liberale und säkulare Opposition. Immerhin: Die pro-kurdische HDP hat die 10-Prozent-Hürde genommen und ist im Parlament vertreten.
Der klare Ausgang der Wahlen wird das zerstrittene Land kaum einen. Stattdessen könnte es zu einer noch stärkeren Polarisierung kommen. Denn das absolute Mehr der Erdogan-Partei werfe die Frage auf, ob die kurdische Sache in Ankara überhaupt noch Gehör findet, sagt Inga Rogg, Nahost-Korrespondentin der NZZ: «Falls nicht, werden sich militante Jugendliche weiter radikalisieren.» Und sollte Erdogan gänzlich auf eine Aussöhnung verzichten und weiter auf Gewalt setzen, drohe die Lage in den Kurdengebieten endgültig zu eskalieren.
Auch die Diaspora ist zerstritten
Wie verhärtet die Fronten zwischen Kurden und Türken auch in der Diaspora sind, zeigte sich vor wenigen Wochen in Bern. Eine Kundgebung von türkischen Nationalisten in der Innenstadt rief kurdische Gegendemonstranten auf den Plan. Die Bilanz des Aufeinandertreffens: 22 Verletzte, Schlimmeres konnte nur durch ein Grossaufgebot der Polizei verhindert werden. Wieder einmal wurden Ängste befeuert, dass der Funke von der Türkei auf die Diaspora überspringt.
In der Schweiz leben rund 120‘000 Menschen türkischer Herkunft, schätzungsweise die Hälfte von ihnen sind Kurden. Einer von ihnen ist Mustafa Atici. Er stammt aus der Provinz Kahramanmaras, der Heimat vieler alevitischer Kurden. 1992 kam er zur Weiterbildung in die Schweiz. Er ist geblieben. Heute ist Atici Unternehmer, Gastronom und Vizepräsident der SP Basel-Stadt.
Die Leute sagen mir: ‹In diesem Land kann man nicht mehr leben›
Wie die Mehrheit der türkischstämmigen Diaspora in der Schweiz unterstützt Atici die HDP. Von einem Hoffnungsschimmer spricht er, wenn er auf ihr Wahlresultat schaut: «Viele halten das für selbstverständlich, das ist es aber nicht.»
Denn in den letzten Monaten habe es «extreme Repressalien» gegeben, die alles und jeden erfassten, der nicht die AKP-Linie vertritt: «Linke, Liberale, Kurden – alle litten darunter. Dann kamen bei den Bombenanschlägen allein in Ankara über 100 Menschen ums Leben.» Das alles habe die Opposition eingeschüchtert, sagt Atici. Das sei der Hauptgrund für das Resultat.
Atici blickt sorgenvoll in seine Heimat: «Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, sagen mir: ‹In diesem Land kann man nicht mehr leben›». Die Stimmung in seinem Umfeld sei schlichtweg bedrückend. Erdogan wolle alleiniger Führer sein, um jeden Preis: «Ihm kam die Meinungsfreiheit in die Quere, er versucht die Justiz zu beeinflussen, sie ist nicht mehr unabhängig.»
Versinkt die Türkei im Chaos?
Repressalien, Gewaltausbrüche, Aushebelung des Rechtsstaats – Aticis Vorwürfe gegen Erdogan wiegen schwer. Doch wie erklärt er sich, dass trotzdem die Hälfte des Wahlvolks die Partei bestätigt?
Erdogan habe auf der Klaviatur des Nationalismus gespielt, sagt der Basler SP-Mann: «Er hat damit zwar sein Ziel erreicht und Stimmen geholt.» Aber zu einem hohen Preis, mahnt Atici an.
«Erdogan will die Türkei zu einer Führungsmacht in der Region machen.» Das habe jedoch dazu geführt, dass die regionalen Konflikte nun auch die Stabilität und Sicherheit der Türkei selbst gefährdeten.
Eine verheerende Entwicklung, befindet Atici – auch für Europa: «Die Flüchtlinge werden sich in einer Türkei, die im Chaos versinkt, nicht wohl fühlen. Die Vertriebenen, viele davon aus Syrien, werden nach Westeuropa kommen und ein Teil davon auch zu uns in die Schweiz.»