Seyne-les-Alpes. Eine Menschentraube steht mitten auf einer erst kürzlich vom Schnee freigegebenen Wiese. Es zieht und der Himmel ist grau – passend zum Anlass. Plötzlich stellen sich Männer und Frauen in blauen und orangen Uniformen im Spalier auf. Nach und nach schreiten die Hauptpersonen die Reihe ab: Hollande, Merkel und Rajoy.
Die Staats- und Regierungschefs informieren sich über den laufenden Einsatz und danken den Rettungskräften für ihre aufopfernde Hilfe. Danach stellen sie sich für eine Schweigeminute hin. Jeder Schritt wird von Fotografen und Kameraleuten festgehalten, jede Lautäusserung von Mikrofonen eingefangen. Am Ende folgt eine gemeinsame Pressekonferenz. Zur Unglücksursache lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch wenig sagen, deshalb fallen Worte wie Solidarität, Unterstützung, Zusammenarbeit, Dank, Beileid und Mitgefühl.
Echt oder doch nicht?
Ähnliche Worte fallen immer dann, wenn ein Unglück oder Ereignis mit vielen Toten eintritt. In den vergangenen Jahren hat auch die sorgfältig vorbereitete Präsenz von Regierungsvertretern am Unglücksort deutlich zugenommen.
In den Kommentarspalten bleibt dieser Umstand nicht unbemerkt. Wieso begeben sich die Staats- und Regierungschefs nicht zu den Angehörigen? Mehrmals unterstellen ihnen die Kommentierenden Heuchelei. Kann man den Regerierungsvertretern zu Recht eine mediale Inszenierung vorwerfen?
Öffentlicher Kondolenz-Zwang als «perverse Entwicklung»
«Es besteht ein öffentlicher Empathie-Zwang», stellt Sozialwissenschaftler und Kommunikationsberater Klaus Kocks fest. Der heutige Kondolenz-Zwang sei negativ motiviert. Wer sich nicht daran beteilige, der gerate unter Verdacht der Gefühllosigkeit.
Kocks sieht in der zunehmenden Mediatisierung der öffentlichen Trauer-Bekundungen eine «perverse Entwicklung». Das Kondolieren sei ein christlicher Ritus, wobei reinen Herzens Reue empfunden werde. Heute verkomme es aber immer mehr zum Posing und werde so zur Heuchelei. «Die Politiker nutzen ihre Auftritte als Fototermin, ohne dabei die Würde der Opfer zu achten», führt Kocks aus. Das könne im schlimmsten Fall zu Situationen führen, in denen Politiker am Unfallort die Bergungsarbeiten behinderten.
«Öffentlichkeit erwartet Reaktion»
Zwar stellt auch Kommunikationswissenschaftlerin Ulrike Klinger einen zunehmenden Kommunikationszwang fest. Regierungskommunikation sei oft symbolisches Handeln und deshalb inszeniert. «Das bedeutet aber nicht zwingend, dass sie unaufrichtig ist oder stets nur rein strategischen Zielen folgt.»
Zudem seien öffentliche Beileidsbekundungen und demonstrierte Solidarität nichts Neues, sagt die Wissenschaftlerin am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung in Zürich. Das Internet und soziale Netzwerke hätten höchstens eine zeitliche Dynamik beigefügt, so dass Medienvertreter und die Öffentlichkeit heute zeitnahe Reaktionen erwarten dürften. «Regierungsvertreter sind Repräsentanten und die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass sie sich in Krisensituationen zu Wort melden.»
Amerikanisierung der Medienwelt
Die Öffentlichkeit mit ihrer Erwartungshaltung sei schuld an der Entwicklung in der Krisenkommunikation, bemerkt Kocks. Es liesse sich eine Amerikanisierung der Medienwelt feststellen. Angefangen habe dies mit Ronald Reagan. Der ehemalige US-Präsident nutzte jede Gelegenheit, um sich ins Scheinwerferlicht zu bringen, wie der PR-Spezialist erklärt. «Er berief Pressetermine ein – ohne Inhalt – nur um sich medienwirksam vor einem abgebrannten Haus oder mit einem Hund ablichten zu lassen.»
Das setzte sich dann auch in der Krisenkommunikation fort. «Heute muss alles ausgesprochen werden, auch wenn eher Schweigen angebracht wäre.» Das führe mitunter dazu, dass aus einer Schweigeminute Geschwätz wird, denn «Stille lässt sich im Fernsehen nicht übertragen», führt Kocks aus.
Drehbücher werden immer wieder angepasst
Klar ist: Krisenkommunikation ist ein Minenfeld. Jede Regierung beschäftigt darum einen Stab von Public-Relations-Experten, die ihre Drehbücher für mögliche Krisen in der Schublade haben. Allerdings passen die Vorgaben nicht immer.
«Ein Beispiel dafür, was passiert, wenn man in einem kollektiven Trauerprozess nicht kommuniziert, ist der Tod von Lady Diana», sagt etwa Kommunikationswissenschaftlerin Ulrike Klinger. Das Königshaus habe den Tod der Prinzessin zunächst als private Angelegenheit betrachtet – «eine völlige Fehleinschätzung der Bedürfnisse der englischen Öffentlichkeit». Das habe die Monarchie an den Rand einer heftigen Legitimationskrise gebracht.
Dieses Beispiel zeigt: Wird das Handeln eines Regierungsvertreters als unpassend empfunden, kann die öffentliche Meinung durchaus Einfluss nehmen. Auch das britische Königshaus änderte seine Kommunikationsstrategie. Die Wirkung im aktuellen Fall bleibt abzuwarten.