ARD-Korrespondent Reinhard Baumgarten kennt die Situation der Flüchtlinge im Nordirak. Er war bis Donnerstag in Dohuk in der autonomen Region Kurdistan.
SRF: Sie sind zurück aus der Stadt Dohuk. Was haben Sie dort gesehen?
Reinhard Baumgarten: Überall bietet sich das gleiche Bild. Menschen leben auf Baustellen, in Rohbauten, leben irgendwie, damit sie etwas über den Kopf haben, das Schatten spendet. Wir sprechen von Temperaturen, die auf 45 Grad hochgehen können. Die Menschen haben nicht einmal das Nötigste. Sie werden zum Teil von der einheimischen Bevölkerung versorgt, denn viele mussten Hals über Kopf fliehen. Sie hatten wirklich nur das dabei, was sie auf dem Leib trugen. Nur manche schafften es noch, eine Tasche mitzunehmen.
Wie lange sind die Flüchtlinge schon in diesem Gebiet?
Der ganze Wahnsinn, um es mal so zu nennen, begann Anfang dieses Monats. In der Nacht von 3. auf den 4. August fiel Sindschar, die grösste von Jesiden bewohnte Stadt. Ich muss dazu sagen, dass die meisten Flüchtlinge Jesiden sind. Sie sind dem Terror der islamistischen Milizen am schlimmsten ausgesetzt, weil diese davon ausgehen, dass die Jesiden keine gottesfürchtigen Menschen sind. Sie behaupten, dass die Jesiden den Teufel verehren, was inhaltlich kompletter Blödsinn ist. Aber die IS-Leute sind nicht bekannt dafür, dass sie gross denken.
Was mir berichtet wurde, ist schon ziemlich haarsträubend. Da ist die Rede von Frauen, die vor den Augen ihrer Kinder und Ehemänner vergewaltigt werden, Männer und Brüder, die vor den Augen ihrer Familien getötet werden. Tausende Frauen und Mädchen wurden von IS-Kämpfern verschleppt. Man weiss nicht, wo sie sind. Ich habe etliche Leute getroffen, die sagten, ‹ich weiss nicht wo meine Schwester ist›, oder ‹ich weiss nicht, wo meine älteste Tochter ist›. Eine unvorstellbare Situation im 21. Jahrhundert. Die Flüchtlinge stehen unter einem kollektiven Schock und sind total traumatisiert.
Wollen die Leute jetzt dort bleiben oder weiterziehen?
Acht von zehn Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wollen weg. Die wollen raus aus dem Irak. Sie sagen, sie können da nicht mehr leben. Wenn die Gefahr durch die Terrormiliz IS gebannt werden sollte, was früher oder später vielleicht gelingt, dann ist doch ein riesiger Bruch entstanden. Es ist dramatisch: Viele sagen, ‹unsere sunnitischen Nachbarn haben diesen IS-Leuten geholfen und uns mehr oder weniger ans Messer geliefert. Sie haben unsere Frauen verschleppt, unsere Häuser geplündert, unsere Autos genommen. Wir können dort nicht mehr leben.›